Eine Bühne vor einer Ruine in Aleppo. Darauf stehen, schwarz gekleidet, mit goldenen Schals, die 20 Sängerinnen des Gardenia-Chors aus Damaskus. Erstmals seit Jahren traten sie letzten Januar in jener Stadt auf, die einst als kulturelles Zentrum Syriens galt – bis der Krieg das Land zerriss. Während der letzten Kriegsjahre war an einen Auftritt in Aleppo nicht zu denken, erinnert sich Chorleiterin Saffana Baqleh aus Damaskus. Heute könnten sie überallhin: Syrien ist wieder ganz, sagt die Chorleiterin dankbar.
Jede Kunstform ist politisch – ob Musik, Malerei oder Literatur.
Die 40-jährige Harfenistin gründete den Chor 2016 zusammen mit der Sängerin Ghada Harb. In einer Zeit, in der der Krieg seinen Höhepunkt erreicht hatte und sie kaum noch musizierte, da sie unter dem repressiven Staatsapparat zu leiden hatte. «Es gab so viel Gewalt, so viel Tod und Bomben. Ich verfiel in eine tiefe Depression, aus der ich durch die Musik wieder herausfand.» Der Chor wurde für Saffana Baqleh selbst zur Therapie. Gleichzeitig entdeckte sie die soziale und politische Kraft der Musik. «Jede Kunstform ist politisch – ob Musik, Malerei oder Literatur», sagt Baqleh überzeugt.
Versteckte politische Botschaften unter dem Assad-Regime
Für den Gardenia-Chor komponierte sie das Stück «Syrische Rituale» – ein musikalischer Ausdruck ihrer schmerzvollen, beinahe toxischen Beziehung zu ihrem Heimatland: «Syrien ist ein verwüstetes, gebeuteltes Land, in dem nichts funktioniert, und doch liebe ich es wie kein anderes.»

Dieses Stück führte der Gardenia-Chor noch bis kurz vor dem Sturz Baschar al-Assads im November letzten Jahres auf. Dies, obwohl es eine klare, wenn auch versteckte, Kritik an der damaligen Herrschaft war: «Assad direkt zu kritisieren, war unmöglich. Doch zwischen den Zeilen liessen sich Botschaften verstecken.» Wer sie zu lesen wusste, verstand sie. Die Behörden hingegen blieben oft ahnungslos. Die Musik verschleierte den Inhalt: Ein geschriebener Text hätte sofort Alarm ausgelöst – gesungen war dieselbe Botschaft plötzlich harmlos. «Das ist die Magie der Musik!», sagt Saffana Baqleh weiter.
Wird die neue Führung ihren Gesang erlauben?
Nun steht Syrien unter neuer Führung – und die Regeln sind noch unklar. Das Assad-Regime könne man jetzt unverhohlen kritisieren. Doch darf man über das neue Regime sprechen? Baqleh glaubt: «Ja – zumindest im Moment.» Ihre Unsicherheit lässt sich jedoch nicht verbergen.
Denn der Gardenia-Chor singt auch Gedichte von Sufi-Poetinnen – gleich doppelt provokant für religiös Konservative, wie sie nun auch in der neuen Regierung des ehemaligen Rebellenführers Ahmad al-Scharaa vertreten sind. Das Gedicht «Oh Menschen» etwa handelt von einer Dichterin, trunken vor Liebe zu Gott:
Solche Verse – die göttliche Liebe als Rausch deuten – stossen in konservativen Kreisen auf wenig Verständnis. Ob sie künftig in Syrien gesungen werden dürfen? Baqleh gibt sich entschlossen: «Wir werden weitersingen und versuchen, unsere künstlerische Freiheit auszuloten.»
Auftritt des Gardenia-Chors, kurz nach dem Machtwechsel
Der Gardenia-Chor plant nun eine Tour durch ganz Syrien, von der alewitisch geprägten Küste am Mittelmeer bis in die kurdischen Gebiete im Nordosten. Mit einer neuen Mission: «Wir müssen das Eis brechen. Denn nach Jahren des Krieges sind wir uns fremd geworden in Syrien.»
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