Der FC Barcelona erarbeitet sich im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League gegen den BVB einen so großen Vorsprung, dass eigentlich nichts mehr schiefgehen kann. Das tut es auch nicht, aber die Mannschaft von Hansi Flick kassiert ein blaues Auge.
Hansi Flick schaute nach 52 Minuten auf die Uhr an seiner linken Hand. Besorgt, verzweifelt, vielleicht ein wenig panisch. Dieser Fußballabend hatte ihm bislang gar nicht gefallen und er drohte seinem FC Barcelona nun völlig aus der Hand zu gleiten. Nach dem 4:0 im Hinspiel lag Europas derzeit beste Mannschaft plötzlich mit 0:2 beim BVB hinten. Das alte Westfalenstadion war bereit, Herberge für ein neues Wunder zu sein. Zwei Minuten später hatte sich die kleine Welt im großen Stadion gedreht. Barcelona hatte das Anschlusstor erzielt und das Wunder zerfetzt. Nicht aus eigener Kraft, sondern weil Ramy Bensebaini eine Hereingabe von Fermin Lopez abgefälscht hatte. Alle Sorgen, alle Zweifel flogen wie gesprengte Ketten von Flick.
Einem eigenen Fußballer war diese Eskalation des Glücks an diesem Abend nicht zuzutrauen gewesen. Barça war mit einer erstaunlichen Lethargie angereist. Und die Spieler gingen sich gegenseitig auf den Senkel. Robert Lewandowski war von Raphinha genervt. Und Raphinha von Robert Lewandowski. Das neue Weltwunder des Fußballs, Lamine Yamal, hatte gar keine Zeit, einen Teamkollegen zu nerven, er nervte sich selbst am allermeisten. Er bekam nichts hin. Der Ball war sein Feind. Und so richtig den Kaffee auf hatte Frenkie de Jong. Während er versuchte alle Löcher zu stopfen, klagte er seine Mitspieler an, dirigierte, verzweifelte. Auch einige Minuten nach Abpfiff des Spiels, das Barcelona mit 1:3 verloren hatte und trotzdem ins Halbfinale eingezogen war, war er auf hochtourigem Puls unterwegs und hatte einen Disput mit einem Betreuer auf dem Weg in die Kabine.
"Ein Barça, das nicht wiederzuerkennen ist"
In Dortmund war etwas passiert, das die Fußballwelt nicht für möglich gehalten hatte. Das Mysterium BVB hatte das Superteam aus Katalonien, das irgendwann im letzten Jahr mal ein Spiel verloren hatte, an den Abgrund der Champions League gedrückt. Spätestens als es nach 49 Minuten 0:2 stand, herrschte Vollalarm. Nichts ging bei Barcelona zusammen. Die drei genervten Magier waren weitestgehend außer Dienst gestellt. Von Spielern wie Ramy Bensebaini und Waldemar Anton, die sie im Hinspiel noch schwindelig gespielt hatten.
Die Dortmunder setzten von Beginn an alles auf Sieg, auf Wunder. Nach elf Minuten führte die Mannschaft von Niko Kovac mit 1:0. Serhou Guirassy hatte einen Foulelfmeter an Pascal Groß technisch fein verwandelt. Diese Führung war längst überfällig. Der BVB stürmte los, als müsste er dem Teufel davonlaufen. Dabei war der Teufel an diesem Abend selbst im Inferno gefangen. "Ein Barça, das nicht wiederzuerkennen ist, überlebt die Hölle von Dortmund", schrieb die fassungslose Zeitung "Sport". 25 Minuten wurde Europas größte Fußballwucht hin- und hergeschleudert, fand keinen Halt. Nicht bei de Jong, nicht bei Flick, der spätestens nach den ersten elf Minuten auf einen Abend zusteuerte, den offenbar nur er selbst hatte kommen sehen.
Flick hat dieses Spiel befürchtet
"Ich hatte das Gefühl, dass so etwas kommt heute", gestand er später. Er kenne eben das Stadion, er kenne die Spieler. Egal wie es um den BVB steht, egal wie viele Schlüsselspieler fehlen, mit der Kraft dieses gigantischen Fußball-Tempels ist vieles möglich. Nicht alles, wie die Dortmunder und Flick am Ende feststellen durften. Dem BVB gefiel das nicht, Hansi Flick schon. Viele Worte über die Leistung seiner Mannschaft, über das Straucheln, wollte er eigentlich nicht verlieren. "Das würde der Leistung von Borussia Dortmund nicht gerecht", befand er. Doch so leicht wollten ihn die spanischen Reporter nicht vom Haken lassen. Also holte er ein wenig aus. "Es hat nicht allzu viel bei uns geklappt. Die Dinge, die wir so rausgespielt haben, waren nicht so, wie wir das können. Glückwunsch an Dortmund, sie haben ein sehr gutes Spiel gemacht. Und Glückwunsch an meine Mannschaft, wir sind im Semifinale." Im ersten gemeinsamen Jahr. Das ist schon eine prima Sache, befand er.
Der Supertrainer wollte sich das Erreichte dann auch nicht kleinreden lassen. "Wir müssen ein bisschen positiver auf die Dinge schauen. Wir haben eine sehr gute Mannschaft. Was sie in den vergangenen Wochen geleistet hat, ist phänomenal." Jedoch werde er auch "einige Dinge klar ansprechen. Wir haben ganz viel vor diese Saison - wir sind einen Schritt weiter, aber noch nicht am Ende." Im Halbfinale kommt es nun entweder zum Duell mit den Verteidigungsgiganten von Inter Mailand. Oder zu einem Wiedersehen mit seinem Ex-Klub FC Bayern, der an diesem Mittwochabend (21 Uhr bei DAZN und im Liveticker bei ntv.de) um den Traum vom Heim-Finale kämpft.
Jules Kounde ist richtig sauer
Flick hat den katalanischen Riesen auf eine faszinierende Weise wiederbelebt und ihn en vogue gemacht. Über die Grenzen von Barcelona hinaus. Als der Mannschaftsbus am Dienstagabend über die Strobelallee zum Stadion schlich, breitete sich eine ansteckende Magie aus. Von diesem Bus ging das Selbstverständnis einer Übermacht aus. Die Barça-Fans tobten vor Glück, viele Dortmunder blickten ehrfurchtsvoll auf die abgedunkelten Fenster, hinter denen sich das Talentierteste tummelte, was Europas Fußball derzeit zu bieten hat. Doch zwischen der Strobelallee und dem Rasen ging etwas verloren, diese Kraft, diese Unantastbarkeit.
"Ich bin enttäuscht über das Spiel, das wir gemacht haben", schimpfte Abwehrspieler Jules Kounde, der sich im Dauersprint um Karim Adeyemi kümmern musste. "Wir haben alles vermissen lassen, was wir im Hinspiel gut gemacht haben. Pressing, Passwege zustellen. Wir waren nicht auf der Höhe, haben Fehler gemacht, hatten Konzentrationsschwächen." Nur selten gelang es Barcelona, sich aus dem festen Griff des BVB zu lösen. Nur selten zeigte diese Mannschaft, zu welch herausragenden Dingen sie in der Lage ist. Der junge Gavi und de Jong spielten gelegentlich Bälle in Räume, die sich erst dann auftaten, als das Spielgerät in sie hineinschoss. Aber der frustrierte Yamal und der ratlose Raphinha konnten weder mit Raum noch mit Ball etwas anfangen.
Flick tobte an der Seitenlinie, pfiff, dirigierte. Er stellte um, ließ seine Flügelstürmer rotieren. Er versuchte alles, die Lethargie aus seinen Spielern zu bekommen. Doch er konnte nicht fassen, was sie taten. Wie sie vom BVB immer wütender an den Abgrund gezerrt worden waren. Einmal fanden sie an diesem Abend die richtige Antwort, zwei Minuten nachdem Flick auf die Uhr geschaut hatte. Es war nur eine temporäre Beruhigung des Trainers, der weiter wütend die Arme nach oben warf, wenn seine Mannschaft auf dem Weg zum Tor wieder einmal Fehlentscheidungen traf. Der BVB erhöhte auf 3:1, wieder war es Guirassy. Wieder war Flick bemüht, seine Spieler zu erreichen. Er wechselte, seine Spieler nutzten jede Gelegenheit, die Uhr zu melken. "Der Puls ist ständig oben", sagte Flick zu seinem wilden Ritt an der Seitenlinie. Das sei ganz normal. Anders als dieser Abend verlaufen war. Sie hatten ihn überlebt, aber waren nicht glücklich. Erst als Flick sie daran erinnert hatte, dass sie im stärksten Vereins-Wettbewerb der Welt immer noch verdient unter den besten Vier stehen: "Erst da haben sie gemerkt, dass ich damit zufrieden bin. Wir dürfen uns freuen."
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