Edgar Páez Cortés verließ am 23. September 2023 mit seiner Tochter das Estadio Metropolitano de Techo. Der dort ansässige kolumbianische Zweitligist Tigres FC hatte gerade 2:3 zu Hause verloren. Das Flutlicht brannte noch, die enttäuschten Fans strömten zum Parkplatz. Als Páez anschließend durch Bogotas Straßen fuhr, folgten ihm zwei Motorradfahrer. Dann fielen Schüsse, Tigres’ Vereinspräsident war sofort tot. Die Presse berichtete routiniert vom „tragischen Tod eines Fußballfunktionärs“, die Geschichte verschwand nach 48 Stunden aus den Nachrichtenspalten.
Was damals niemand wusste: Ein geheimer Bericht der kolumbianischen Dirección Nacional de Inteligencia (DNI), der im Oktober 2025 an die Öffentlichkeit gelangte, führt Páez Cortés als „verantwortlich für die Operationen und Logistik des Drogentransports innerhalb des Landes“. Die Staatsanwaltschaft ermittelte später Verbindungen zu einer kriminellen Struktur mit direkten Kanälen zum Clan del Golfo, Kolumbiens größter bewaffneter Gruppe, und zu den Smaragdhändler-Kartellen aus Boyaca. Ein Geständnis von Páez Cortés’ Auftragsmörder bestätigte das.
Der 200-seitige DNI-Bericht zeichnet das Bild einer neuen Generation von Drogenbossen, die aus den Fehlern ihrer Vorgänger gelernt haben. Der schillernde Boss des Medellin-Kartells Pablo Escobar baute sich einen Privatzoo mit Flusspferden auf seiner Hacienda Nápoles. Die Rodríguez-Orejuela-Brüder fuhren in gepanzerten Limousinen durch Cali. Gonzalo Rodríguez Gacha trug goldene Pistolen am Gürtel. Alle endeten in US-Gefängnissen oder starben eines unnatürlichen Todes. Die „Nueva Junta del Narcotráfico“ hingegen, die diesen Drogenkönigen folgte, meidet das protzige Profil. Stattdessen: Maßanzüge, Klubdirektorenposten, respektable Investitionen. Die DNI nennt sie „Narcos Invisibles“ – unsichtbare Drogenbosse, die mit Fußballklubs Milliarden waschen.
Drogenbosse in Reihe eins mit bewaffneten Bodyguards
Luis Eduardo Méndez Bustos sitzt in der VIP-Loge des Estadio El Campín, das mehr als 30.000 Zuschauer fasst. Als Präsident von Independiente Santa Fe führt er den neunmaligen kolumbianischen Meister. Méndez ist Strafverteidiger, eloquent, mit der selbstsicheren Ausstrahlung eines Mannes, der Paragrafen liest wie andere Fußballtaktiken. Der DNI-Bericht nennt ihn als einen der „Narcos Invisibles“. Seine Verbindungen reichen bis zu Julio Lozano Pirateque, für den er in den 2000er-Jahren als Anwalt tätig war, als dieser die „Junta Directiva del Narcotráfico“ anführte.
Ein Zeuge namens „Chicharrón“ („Schweineschwarte“) sagte aus, dass sich Lozano während der laufenden US-Ermittlungen regelmäßig mit Méndez in der Vereinszentrale von Independiente Santa Fe traf. Méndez habe dort „alle Probleme gelöst und aktiv am Drogenhandel teilgenommen“. Dessen Antwort ist juristisch perfekt kalibriert: „Meine Beziehung zu Personen aus dem Drogenhandel war strikt professionell – für Beratungsleistungen.“ Eine Formulierung, die bestätigt und leugnet zugleich. Technisch legal, praktisch unwiderlegbar. Genau darauf setzt die neue Generation.
Independiente Santa Fe trägt ohnehin ein schweres Erbe. Zwischen 2010 und 2011 wurde dort wegen Geldwäsche von 1,5 Milliarden Dollar für Daniel „El Loco“ Barrera ermittelt. In den 1980ern kontrollierten die Drogenbarone Silvio und Phanor Arizabaleta-Arzayus den Klub ganz offen, saßen in der ersten Reihe, umgeben von Bodyguards mit Gewehren unter dem Jackett. Damals wussten alle Bescheid – die Spieler, die Presse, die Polizei. Heute tragen die Funktionäre Hermès-Krawatten und diskutieren die LED-Beleuchtung des Stadions mit dem Bürgermeister. Fast unmöglich, die Geldströme zurückzuverfolgen.
Mehr als 900 Tonnen Kokain verschifft – nach sechs Jahren frei
Fußballklubs sind ideale Geldwaschmaschinen. Ein Spielertransfer über umgerechnet eine Million Euro? Auch in Kolumbiens Primera División längst Standard. Sponsorendeals über fünf Millionen? Kommen ständig vor. Investitionen in hochmoderne Trainingszentren? So etwas zeigt doch nur die Klubliebe der Geldgeber. Die Geldströme sind bewusst komplex gestaltet – Offshore-Gesellschaften in Panama, Holdings auf den Cayman Islands, Treuhänder in Miami. Die Papiere werden von Anwaltskanzleien abgesegnet, Beteiligungen über drei, vier Ecken geschickt verschleiert.
Der DNI-Bericht nennt vier private Sicherheitsfirmen als zentrale Operationsbasen. Sie liefern nicht nur Personenschutz, sondern auch legale Waffenlizenzen und Eskort-Zertifikate für Drogenbosse, die sich als respektable Geschäftsleute tarnen. Die Firma „Hidra“ beschäftigt Dionisio de Jesús Vera Olmos, in den USA wegen Drogenhandels verurteilt, und Jorge Luis Blanco Rodríguez alias „El Burro“ („der Esel“), dem Kartellverbindungen bis in höchste Etagen nachgesagt werden. Alle mit ordentlichen Arbeitsverträgen, alle mit staatlich anerkannten Lizenzen.
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Julio Lozano Pirateque koordiniert die Operationen angeblich aus Madrid. 2010 stellte er sich freiwillig den US-Behörden in Panama. Er soll mehr als 900 Tonnen Kokain verschifft und Milliarden gewaschen haben. Nach nur sechs Jahren kam er frei – vermutlich durch einen Deal, dessen Details nie öffentlich wurden. Heute lebt er in Spanien, das seine Staatsbürger nicht nach Kolumbien ausliefert.
Staatspräsident Gustavo Petro nennt Lozano den „Hauptfeind Kolumbiens“ und behauptet, die „Nueva Junta“ plane ein Attentat auf ihn. Zeitgleich erklärt die kolumbianische Staatsanwaltschaft, keine schlüssigen Beweise über die Organisation zu haben. Der DNI-Bericht widerspricht auf 200 Seiten. Ein absurder Widerspruch, typisch für ein Land, in dem sich nicht einmal die Behörden einig sind.
Ein mutiger Justizminister bezahlt mit dem Leben
Die „Nueva Junta del Narcotráfico“ operiert global vernetzt: In Dubai erwarben Führungsmitglieder durch Immobilieninvestitionen von jeweils 400.000 Dollar Aufenthaltserlaubnisse – keine Fragen, kein Auslieferungsabkommen. Weitere Stützpunkte sind in Mexiko und der Türkei. Verbindungen zur italienischen ’Ndrangheta, zu albanischen, serbischen, mexikanischen und uruguayischen Kartellen soll es geben. Die Bosse leben in Penthäusern in Dubai mit Blick auf den Burj Khalifa oder in Madrider Villen, investieren in Tech-Startups – und Fußballklubs. Ein multinationales Kriminalkonglomerat.
Schon 1983 prangerte Justizminister Rodrigo Lara Bonilla erstmals öffentlich Drogengelder im kolumbianischen Fußball an. Ein mutiger Mann. Ein Jahr später wurde er erschossen – die Kartelle schickten eine klare Botschaft. In den 1980er- und 90er-Jahren kontrollierte das Medellín-Kartell unter Pablo Escobar den Klub Atlético Nacional, das Cali-Kartell führte América de Cali, Millonarios FC wurde von Drogenboss Gonzalo Rodríguez Gacha finanziert. Der Klub erwog später, zwei Meistertitel aus der damaligen Zeit zurückzugeben, weil sie mit Kartellgeld erkauft waren. Die Titel blieben – wohl auch, weil mindestens sechs Topklubs ebenfalls nachweislich Verbindungen zu Drogenbaronen hatten.
Dann kam die WM 1994 in den USA. Andrés Escobar, Verteidiger der kolumbianischen Nationalelf, unterlief gegen die Gastgeber ein Eigentor, das das Vorrunden-Aus besiegelte. Eine nationale Katastrophe für ein Land, das sich viel von diesem Turnier erhofft hatte. Zehn Tage später parkte Escobar auf einem Parkplatz in Medellín. Ein Mann näherte sich. Sechs Schüsse fielen.
Angeblich rief der Mörder bei jedem Schuss „Gol“ – „Tor“. Hinter dem Attentat standen Wettbarone und Drogenbosse, die Millionen verloren hatten. Der Schütze saß ein paar Jahre im Gefängnis, die wahren Drahtzieher wurden nie ermittelt.
Niemand wird sie bei der WM als das erkennen, was sie sind
Das System funktioniert seit vier Jahrzehnten. Der DNI-Bericht zeigt: Heute sind die Geldströme so komplex, dass Ermittler Monate brauchen, um auch nur ansatzweise durchzublicken. Die Anwälte sind teuer, die Offshore-Konstruktionen undurchdringlich.
Edgar Páez Cortés starb nach einem Spiel, die Presse schrieb vom tragischen Unfall. Nur die halbe Wahrheit. In Kolumbien eher das übliche Spiel. Im Sommer 2026 findet die WM erneut in den USA statt – dort, wo Andrés Escobars Schicksal vor 32 Jahren besiegelt wurde. Kolumbien hat sich qualifiziert. Es könnte ein Moment der Erlösung sein, ein Schlussstrich unter drei Jahrzehnte Schmerz. In den VIP-Logen werden Männer in Maßanzügen sitzen, über Taktik fachsimpeln, Visitenkarten austauschen. Sie werden aussehen wie erfolgreiche Geschäftsleute, wie respektable Klubpräsidenten, wie die neue Elite des südamerikanischen Fußballs. Niemand wird sie als das erkennen, was sie sind. Das ist der Plan.
Die Stadien sind moderner, die TV-Gelder höher, die Infrastruktur ist besser. Perfekte Bedingungen. Der kolumbianische Fußball wurde nie von den Kartellen befreit. Die unsichtbaren Narcos von heute operieren subtiler, aber mit denselben Methoden wie die Capos von damals. Sie verstehen das Spiel besser – nicht nur das auf dem Rasen, sondern auch das der Macht, des Geldes, der Verschleierung. Die Schatten von 1994 sind nie verschwunden, sie haben sich nur bessere Anzüge angezogen. Der Mörder schrie damals „Gol“. Heute schreit niemand mehr. Die Geschäfte werden leise abgewickelt. Der kolumbianische Fußball hat seine Lektion gelernt: Wer unsichtbar bleibt, überlebt.
Dieser Artikel stammt aus der Guest Edition der WELT AM SONNTAG von Andreas Gursky, einem der berühmtesten Fotografen der Welt. Sie können dieses einzigartige Sammlerstück hier bestellen.
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