Die Kapitänsbinde scheint bei Borussia Dortmund schwerer zu wiegen als bei den meisten anderen Klubs. Marco Reus wurde in seinen fünf Jahren öffentlich fast permanent als wahrer Chef hinterfragt, gab das Amt vor seiner letzten BVB-Saison freiwillig ab. Auch der aktuelle Kapitän Emre Can wurde zunächst stark angezweifelt und bestätigte, dass man öffentlich schnell zum Schuldigen wird, wenn es nicht läuft. Julian Brandt, der vergangene Saison zweiter Stellvertreter wurde, sagte zuletzt über die Führungsrolle: „Am Ende hat es mir mehr geschadet, als dass es mir gutgetan hat.“
In den vergangenen Saisons war der BVB immer wieder damit beschäftigt, das Führungsvakuum zu schließen. Jetzt ist plötzlich alles anders. Immer mehr Stars wollen Verantwortung übernehmen und drängen sich in der internen Hierarchie für die wichtigsten Ämter auf, sodass ein Machtkampf um die BVB-Kabine entstanden ist.
Bereits in den Sitzungen vergangenen Sommer hatten die Bosse unter der Leitung von Sportgeschäftsführer Lars Ricken den Beschluss gefasst, bei allen Transfers auf Führungsqualität zu achten. Über Pascal Groß, Waldemar Anton, Serhou Guirassy und nun Jobe Bellingham sammelten sie detaillierte charakterliche Informationen. Die Machtumverteilung ging aber erst unter Trainer Niko Kovac richtig auf. Beispiel: Als Groß vergangenen Sommer nach seinem Wechsel aus Brighton beim BVB loslegte, soll er über die Trainingsmoral einiger Profis erschüttert gewesen sein. Er selbst ging mit der Trainingsintensität voran, die er aus England kannte. Unter Kovac, der dieselben Werte vertritt, stieg er endgültig zum anerkannten Chef auf.
Can hinterließ bei Trainer wie Mitspielern Eindruck wegen seiner Resilienz
Spätestens im Trainingslager in Saalfelden/Österreich (4. bis 9. August) wird Kovac die Hierarchie noch genauer justieren und die neuen Verantwortlichkeiten verteilen. Der Cheftrainer ist zunächst alleiniger Entscheidungsträger, spricht seine Pläne aber eng mit Ricken und Sportdirektor Sebastian Kehl ab.
Im Verein sind sich derzeit alle einig darüber, dass Can (Vertrag bis 2026) zumindest noch für eine weitere Saison Kapitän bleibt. Am Kapitänsamt wollte Kovac schon bei seinem Antritt im Februar nicht rütteln. Bei seinen wichtigsten Personalentscheidungen war ohnehin immer erkennbar, dass er gern auf Erfahrung und Konstanz setzt.
Die Bosse erkennen an, dass der 31 Jahre alte Can mit Binde unter allen Trainern gespielt hat: Edin Terzic, Nuri Sahin, Mike Tullberg und jetzt Kovac. Was in der Kabine besonders Eindruck hinterlassen hat, ist, wie resistent sich Can in der vergangenen Hinrunde gegen Hasskommentare im Netz gezeigt hat.
Nico Schlotterbeck ist weiter klar als Kapitän der Zukunft eingeplant, soll spätestens im Sommer 2026 die Binde übernehmen. Seine Meniskusverletzung bremst ihn aktuell noch bis Oktober aus. In den laufenden Verhandlungen über eine Vertragsverlängerung sehen die Bosse derzeit keine Veranlassung, die Binde als Lockmittel einzusetzen.
Um das Amt als zweiter Stellvertreter kämpfen drei Stars. Der Wichtigste für Kovac ist Stratege Groß. Der Nationalspieler gehört neben Can und Schlotterbeck bereits zum Geheimrat des Trainers, mit dem er alle wichtigen Themen zuerst bespricht. Anton sehen Bosse und Trainer als Idealbesetzung für die zentrale Position in der Dreierkette. Er ist inzwischen einer der mächtigsten Stars, auf dem Platz Lautsprecher und Koordinator. Auch Torwart und BVB-Identifikationsfigur Gregor Kobel hat nach seiner Absetzung unter Sahin wieder Chancen, zum Stellvertreter aufzusteigen.
Der bislang unveränderte Sahin-Mannschaftsrat besteht derzeit noch aus Can, Schlotterbeck, Brandt, Kobel und Marcel Sabitzer. Der 31 Jahre alte Österreicher hat nach Informationen der „Sport Bild“ nach Gesprächen mit Kovac jetzt sein Image als Kabinen-Stinkstiefel abgelegt, soll kommunikativer auftreten. Dennoch ist klar, dass er und Brandt, der als stiller Anführer gilt, an Macht eingebüßt haben.
Die größten Gewinner: Guirassy (vergangene Saison 38 Pflichtspieltore) übernimmt auch neben dem Platz immer mehr Verantwortung, hat beste Chancen, in das Gremium berufen zu werden. Königstransfer Bellingham (für 30,5 Millionen aus Sunderland) hat die BVB-Führung mit seinem kommunikativen Auftreten begeistert, die Bosse wollen ihn allerdings bewusst nicht sofort mit zu großer Verantwortung überfrachten. Ein ganz hohes Ansehen genießt zudem Ersatzkeeper Alexander Meyer, der in der Kabine bereits mehrfach auf den Tisch gehauen hat und sich auch traut, Stars mit großen Namen seine Meinung zu sagen. Positiv bewertet wird auch die charakterliche Entwicklung von Karim Adeyemi, der erwachsener auftritt und sich regelmäßig in Interviews stellt.
Der BVB hat wieder eine Chef-Achse. Kovac muss entscheiden, wen er im Kabinen-Machtkampf auch offiziell befördert.
Der Text wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, „Bild“, „Sport Bild“) erstellt und zuerst in der „Sport Bild“ veröffentlicht.
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