Englands Fußballerinnen stehen zum dritten Mal in Folge im EM-Endspiel - doch der Weg dorthin bietet Tücken. Gegen Italien rettet sich der Titelverteidiger erst in letzter Sekunde. Die britische Presse schwankt zwischen Stolz und scharfer Kritik.
Die entscheidende Szene beginnt in der 118. Minute: Bei einer Flanke der Engländerinnen in den Strafraum geraten Beth Mead und die Italienerin Emma Severini im Zweikampf aneinander. Beide haken sich leicht ein, es entsteht ein kurzes Gerangel, dann geht Mead zu Boden. Die Schiedsrichterin steht direkt daneben, hat freie Sicht auf die Situation – und entscheidet ohne zu zögern auf Elfmeter. Chloe Kelly verwandelt im Nachschuss. Da ist es also: Englands unerwartetes Ticket ins EM-Finale.
Und dass, obwohl es nur wenige Minuten zuvor, nach mehr als 95 Minuten, noch ganz danach aussah, als würde der englische Weg im Halbfinale enden. Doch wie schon im Viertelfinale gegen Schweden, hat Michelle Agyemang einen anderen Plan, aufgeben ist bei ihr nicht drin. Die 19-Jährige vom FC Arsenal reagiert nach einem Durcheinander im Strafraum am schnellsten und trifft aus kurzer Distanz zum 1:1. Ein spätes Tor, das England wieder ins Spiel bringt – und Agyemang in nur wenigen Minuten zur Heldin der Nacht werden lässt. Schon wieder.
"Diese Drama-Spiele machen einfach Spaß"
England hatte lange Mühe, Kontrolle und Struktur ins Spiel zu bekommen. Italien stand tief, verteidigte konsequent und war nach dem Führungstreffer durch Barbara Bonansea (33.) lange auf Kurs Richtung Endspiel. Wiederholt spät brachte Trainerin Sarina Wiegman frischen Wind von der Bank - und fand mit Michelle Agyemang und Chloe Kelly erneut zwei Joker, die das Spiel entschieden.
Trotz der späten Wende fällt das Urteil der englischen Presse verhalten aus. "Die Lionesses stolpern mit blindem Glück ins Finale" schreibt etwa der "Guardian" - und kritisiert die fehlende spielerische Klarheit. Auch die "Times" beschreibt ein gewohntes Muster: "England hat immer nur dann einen Plan, wenn sie auf die Fresse kriegen".
Innenverteidigerin Esme Morgan begegnete der aufkommenden Kritik mit typisch britischem Humor. "Diese Drama-Spiele machen natürlich am meisten Spaß - und wir unterhalten einfach gerne", sagte sie im ZDF - in Anspielung auf das Viertelfinalspiel gegen Schweden, in dem England sich auch erst kurz vor knapp mit einem Ausgleich ins Elfmeerschießen retten konnte.
Doch sie weiß auch, wem sie den glücklichen Ausgang dieses Drama-Spiels zu verdanken hat. "Ich hatte das Gefühl, dass wir in der zweiten Halbzeit an die Tür gehämmert haben und es einfach nicht klappen wollte. Aber dann ist Michelle wieder aufgetaucht und hat uns den Tag gerettet", sagte Morgan über ihre Teamkollegin. "Sie ist einfach eine unglaublich intelligente Spielerin, die weiß, wo sie sich den Raum nehmen muss."
Agyemang: Englands Joker auf der Bank
Mit ihrem Treffer zum 1:1 lieferte Michelle Agyemang erneut einen entscheidenden Moment in ihrer noch jungen Nationalmannschaftskarriere. Erst seit April Teil des Kaders, kommt die Offensivspielerin des FC Arsenal bislang auf vier Länderspiele - und bereits drei Tore. Wie schon im Viertelfinale gegen Schweden kam sie auch diesmal von der Bank - und machte den Unterschied. Beinahe hätte sie sich gegen Italien sogar doppelt in die Torschützenliste eingetragen: In der 117. Minute, nur eine Minute vor der Elfmeterentscheidung, setzte Agyemang einen wuchtigen Abschluss an die Latte - ein Aluminiumtreffer, der die italienische Abwehr erneut ins Wanken brachte.
Am Sonntag steht sie nun mit gerade einmal 19 Jahren vor ihrem ersten großen Titel mit den Lionesses. Es wäre der zweite EM-Triumph in Folge für England - und der dritte für Trainerin Sarina Wiegman, die bereits 2017 mit den Niederlanden Europameisterin wurde. Wiegman selbst zeigte sich nach dem Halbfinalkrimi erleichtert: "Ich habe viele Emotionen, bin erleichtert, glücklich - es fühlt sich surreal an, wieder im Finale zu stehen."
Italien weint – England bleibt fokussiert
Während England jubelte, kollabierte Italiens Traum in einem Tränenmeer. Italien hat über 90 Minuten mutig und mit viel Leidenschaft verteidigt, stand dicht vor der Sensation. Der späte Ausgleich, das bittere Elfmeter-Gegentor – all das ließ die Spielerinnen spürbar leer zurück. Auch Kapitänin Cristiana Girelli, die verletzungsbedingt ausgewechselt werden musste, verließ das Spielfeld unter Tränen. "Leider sollte es nicht sein. Fußball gibt, Fußball nimmt", sagte sie nach dem Abpfiff – eine kurze, aber emotionale Bilanz eines bitteren Abends für die Azzurre.
England hingegen richtet den Blick bereits nach vorne. "Wir müssen dranbleiben und weiter hart arbeiten, damit wir am Wochenende wieder fit sind", sagte Matchwinnerin Chloe Kelly nach dem Spiel. Ob sie – oder Michelle Agyemang – im Finale erneut zur entscheidenden Figur werden, bleibt offen. Doch die Rolle der Joker ist spätestens jetzt fest im englischen Turnierplan verankert.
Nächster Gegner: Spanien oder Deutschland
Im Finale am kommenden Sonntag in Basel wartet nun entweder Spanien oder Deutschland – beide treffen im zweiten Halbfinale am Mittwochabend aufeinander (18 Uhr/ZDF, DAZN und im ntv.de-Liveticker). Kommt es zum Duell mit Deutschland, wäre es eine Neuauflage des EM-Finals von 2022. Damals setzte sich England im Londoner Wembley-Stadion in der Verlängerung durch – mit dem späten Siegtreffer von Chloe Kelly.
Und auch persönlich hätte dieses mögliche Endspiel eine besondere Note: Jess Carter, in der Schlussphase gegen Italien eingewechselt, würde im Finale auf ihre Lebensgefährtin treffen – die deutsche Torhüterin Ann-Katrin Berger
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