Das größte Lob kam von höchster Stelle. „Bravo“, rief Kristalina Georgiewa, die Präsidentin des Internationalen Währungsfonds (IWF), von der großen Bühne im voll besetzten Atrium ihres Hauses herunter. „Bravo“. Sie wisse, die Deutschen seien sehr bescheiden, aber das müsse gesagt werden. Es gebe gerade in Europa viel Jubel über die Entscheidung, mehr Schulden für Verteidigung und Infrastruktur machen zu wollen, werde doch erwartet, dass davon die gesamte Wirtschaft des Kontinents profitiere. „Deutschland ist gerade sehr beliebt“, sagte Georgiewa.
Adressat war Finanzminister Jörg Kukies (SPD), der während der Podiumsdiskussion neben ihr saß. Der Überschwang des Vortrags mag ungewöhnlich gewesen sein, aber nicht der Inhalt. Immer wieder wurde Kukies während der IWF-Frühjahrstagung in Washington auf die Schuldenpläne der künftigen Regierung angesprochen – mal anerkennend, mal ungläubig, immer positiv.
Bundesbankpräsident Joachim Nagel berichtete in Washington ebenfalls davon, dass er noch nie so viel Lob bekommen habe für Deutschland. Die Ausgabenpläne würden im Ausland als Zeichen wahrgenommen, dass Deutschland wieder stärker Verantwortung übernehmen wolle.
Die Erwartungen sind gewaltig. Noch-Finanzminister Kukies nahm das Lob gerne entgegen, spielte die Sache mit den zusätzlichen Schuldenpaketen aber eher herunter. Ja, Deutschland sei in guten Zeiten zurückhaltend gewesen, wenn es um die Aufnahme zusätzlicher Schulden gegangen sei, sagte er dann. Deshalb habe man in schlechten Zeiten aber auch immer Puffer gehabt, um die Ausgaben deutlich nach oben zu fahren – während der Corona-Pandemie etwa oder nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine.
Auch jetzt setze Deutschland seinen Spielraum wieder ein, um Probleme zu lösen, vor allem im Verteidigungsbereich, aber auch für Straßen, Brücken, Schienen, Häfen oder die Gesundheitsinfrastruktur. Die Zeiten seien wieder schlecht, nicht zuletzt dadurch, dass die Amerikaner von Europa verlangten, sich in Zukunft sehr viel stärker um die eigene Sicherheit zu kümmern.
Die Erwartungen im Ausland sind hoch, das Enttäuschungspotenzial aber auch. Denn wie groß der wirtschaftliche Effekt tatsächlich sein wird, ist wenige Tage vor dem Regierungswechsel vollkommen offen.
Bis Mitte Juni muss der Gesetzentwurf vom neuen Kabinett verabschiedet werden
Das fängt beim Bundeshaushalt an. Seit Wochen laufen im Finanzministerium Vorarbeiten für das noch fehlende Zahlenwerk für 2025. Kukies sprach in Washington von einem „fliegenden Wechsel“, den er hinbekommen wolle – von der alten Regierung auf die neue. Bis Mitte Juni muss der Gesetzentwurf vom neuen Kabinett verabschiedet werden, damit auch Bundestag und Bundesrat dem Zahlenwerk noch vor der Sommerpause zustimmen können.
Realistisch erscheint dies nicht. Die künftigen Koalitionäre von CDU, CSU und SPD müssten sich sehr zügig darauf einigen, wie die vorhandenen und neuen Mittel verteilt werden. Der Koalitionsvertrag enthält zwar viele Ideen, doch für klare Absprachen, was als Erstes umgesetzt wird, fehlten während der Verhandlungen Zeit und Wille. Man flüchtete sich in die Formulierung, alle Maßnahmen des Koalitionsvertrages stünden unter Finanzierungsvorbehalt. Auch der Wirtschaftsplan für das neue „Sondervermögen“ Infrastruktur beispielsweise muss erst erstellt werden, bevor nur ein Euro aus dem 500-Milliarden-Topf verplant, geschweige denn ausgegeben werden kann.
Hinzu kommt: Wenn es um Einnahmen und Ausgaben geht, haben oft auch die Bundesländer mitzureden. Das gilt beispielsweise für den von Schwarz-Rot geplanten Investitionsbooster, mit dem Unternehmen direkt 30 Prozent der Anschaffungskosten abschreiben können sollen. Dieser würde Unternehmen schnell mehr Liquidität bringen, die Länder müssten aber genauso wie der Bund zunächst mit weniger Steuereinnahmen auskommen. Schon das sogenannte „Wachstumschancengesetz“ der Ampel-Regierung war winzig, als es Anfang 2024 aus dem Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat wieder draußen war.
Je nachdem, wo CDU, CSU und SPD tatsächlich im Bundeshaushalt 2025 und dann auch 2026 die Schwerpunkte setzen, könnte Deutschland erneut sehr viel weniger für künftiges und vor allem dauerhaftes Wachstum der größten Volkswirtschaft Europas einsetzen, als sich dies die vielen lobenden Stimmen im Ausland erhoffen.
Eine der Kernfragen lautet: Wird überhaupt nennenswert mehr Geld für Verteidigung und Infrastruktur ausgegeben? Schon bei der Diskussion um die Grundgesetzänderung, die für die gewaltigen Schuldenpakete notwendig war, entstand der Eindruck, dass es sich in erster Linie um ein gewaltiges Verschiebemanöver handelt. Ausgaben werden in neue Sondertöpfe geschoben, um im eigentlichen Haushalt Lücken zu stopfen und ausreichend Mittel für die Finanzierung von Wahlgeschenken zu haben – für die Ausweitung der Mütterrente oder die neue Gastro-Steuer beispielsweise.
Und noch etwas könnte dazu führen, dass die „Bravo“-Rufe der IWF-Präsidentin schnell verstummen: die Schuldenregeln der Europäischen Union. Nach Berechnungen von Experten der Brüsseler Denkfabrik Bruegel lassen die derzeitigen EU-Finanzvorschriften die vorhergesehenen Ausgaben für Verteidigung und Infrastruktur nicht zu – „es sei denn, sie werden durch Haushaltseinsparungen an anderer Stelle ausgeglichen“.
Selbst mit einer von der EU-Kommission angebotenen Ausnahmeregel für Investitionen in Rüstungsgüter seien die Berliner Vorhaben unvereinbar mit dem Regelwerk. Die Experten schreiben von einem Dilemma. Zwar sei es aus europäischer Sicht eine gute Nachricht, dass „Deutschland endlich die Fesseln seiner Schuldenbremse abgeworfen hat“. Gleichzeitig dürfe es bei der Einhaltung der Schuldenregeln, dem sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt, keine Ausnahme für Deutschland allein geben.
Nun hat die Vergangenheit gezeigt, dass die europäischen Schuldenregeln selten ein Land davon abhalten, mehr Schulden zu machen, da es keine Konsequenzen fürchten musste. Doch mit den gerade erst beschlossenen neuen Regeln soll eigentlich genau dies in Zukunft vermieden werden.
Kukies machte in Washington denn auch deutlich, dass es für die nächste Regierung nicht nur darum gehen könne, mehr Geld auszugeben. „Die Bundesregierung muss sehr schnell eine Wachstumsagenda beschließen“, sagte er. Dazu gehörten neben Steuererleichterungen grundlegende Reformen auf dem Arbeitsmarkt, auf den Energiemärkten, bei der Reduzierung von Bürokratie, der Erhöhung der Planungs- und Markteinführungsgeschwindigkeit, der Digitalisierung der staatlichen Angebote. „Auch aus diesen Bereichen brauchen wir einen sehr starken Wachstumsimpuls, um unser potenzielles Wachstum zu steigern“, sagte Kukies. Dazu stehe vieles im Koalitionsvertrag.
Die EU-Regeln sehen vor, dass ein Land durchaus mehr Geld ausgeben darf, als die Regeln im strengen Sinne vorgeben, aber nur für Maßnahmen, die die Wachstumschancen der eigenen Wirtschaft nachhaltig verbessern. Die EU werde „sehr akribisch, sehr genau und sehr streng darauf gucken“, dass die schwarz-rote Regierung mit ihrer Politik tatsächlich das Potenzialwachstum wieder erhöhe, sagte Kukies. Er habe darüber am Rande der Frühjahrstagung mit EU-Kommissar Valdis Dombrovskis gesprochen. Das Potenzialwachstum Deutschlands liegt aktuell bei 0,4 Prozent. Mitte der 2010er-Jahre waren es noch 1,5 Prozent gewesen.
Noch bevor die Ministerposten überhaupt vergeben sind, steht die nächste Bundesregierung bereits unter gewaltigem Druck. Sie muss einen Bundeshaushalt 2025 aufstellen – ein Unterfangen, an dem die Ampel-Regierung bekanntlich scheiterte. Bereits im Juni stehen zudem die Gespräche über die Ausgabenpläne mit der EU-Kommission an. Es würde die Verhandlungen der Bundesregierung mit Brüssel über den künftigen Ausgabenpfad sicherlich enorm erleichtern, wenn sie schon sagen könne, in ihrem 100-Tage-Programm hätte sie bereits diese und jene Kabinettsbeschlüsse zu Strukturreformen gefasst. Darauf wies auch Kukies hin.
Er persönlich kann sich dies gelassen anschauen. Dem nächsten Kabinett gehört Kukies höchstwahrscheinlich nicht mehr an. SPD-Chef Lars Klingbeil ist Top-Favorit auf die Nachfolge. An ihm ist es dann auch, im Oktober zur Herbsttagung des Internationalen Währungsfonds nach Washington zu fliegen und die Reaktionen des Auslands einzufangen.
Karsten Seibel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet unter anderem über Haushalts- und Steuerpolitik. Aktuell berichtet er von der Frühjahrstagung des IWF aus Washington.
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