Die Produkte entstehen Schritt für Schritt auf den Werkbänken des Unternehmens Vincorion in Wedel. Die Mechaniker holen ihre Bauteile aus Regalen und Schubladen und bearbeiten die Werkstücke, etwa ein Seitenrichtgetriebe für den Turm eines Kampfpanzers Leopard der aktuellen Generation 2 A7. Oder auch Antriebe zur Bewegung und Stabilisierung der Leopard-Geschütze.

Die Fertigung überwiegend in Handarbeit wirkt beschaulich. Tatsächlich aber steigt der Produktionsdruck bei Vincorion seit Beginn des Ukrainekrieges im Februar 2022. Die Geschäfte des Rüstungsunternehmens am westlichen Stadtrand von Hamburg florieren. Seit jeher arbeitet Vincorion, das dem britischen Finanzinvestor Star Capital Partnership gehört, als Manufaktur, mit kleinen Stückzahlen hoch spezialisierter Komponenten. Aus diesem Modus muss das Unternehmen nun heraus, vor dem Hintergrund der Aufrüstung in Deutschland und Europa. „Wir müssen die Produktion massiv umstellen. Im Vergleich zur Automobilindustrie werden wir weiterhin im Kleinserienbereich unterwegs sein, aber die Abläufe werden deutlich stärker industrialisiert“, sagt Marco Lienau, Teamleiter Produktion im Bereich Energy & Stabilization. Von einer Massenproduktion ist Vincorion weit entfernt – nur zum Beispiel etwa 1000 Seitenantriebe für die Türme von Panzern fertig das Unternehmen derzeit im Jahr.

Auch die benachbarte Abteilung, in der unter anderem Gehäuse für die Panzerbauteile endgefertigt und lackiert werden, wird neu organisiert. „Wir haben die Zahl der Schichten erhöht“, sagt Sören Göttsche, Leiter des Kompetenzzentrums Vorfertigung. „Von Montag bis Freitag bauen wir hier in der mechanischen Vorfertigung einen Dreischichtbetrieb rund um die Uhr auf.“

Die deutsche Rüstungsindustrie fährt hoch. Russland intensiviert seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine hybriden Attacken gegen Mitgliedstaaten der Nato. Und die Vereinigten Staaten von Amerika erscheinen seit dem zweiten Amtsantritt von Präsident Donald Trump im Januar nicht mehr als verlässlicher Bündnispartner. Europa muss sich künftig selbst verteidigen. Niemand weiß bislang genau, mit welchen Mitteln und auf welchen Wegen das idealerweise funktionieren kann. Klar ist nur: Es muss sehr schnell gehen, wenn Europa und die Nato Russland nicht durch eigene Schwäche zu einer militärischen Attacke animieren wollen.

Die Rüstungsbranche im Norden wird mit den steigenden Verteidigungsausgaben in Deutschland und Europa wohl deutlich wachsen. „Die rund 40 Rüstungsunternehmen mit ihren etwa 9000 Wehrtechnik-Beschäftigten in Schleswig-Holstein und rund zehn Unternehmen in Hamburg mit gut 1500 Beschäftigten erwarten, aufgrund ihrer technologischen Kompetenz und ihres breiten Produktspektrums, angemessen an den künftigen Beschaffungsvorhaben beteiligt zu werden“, sagt Dieter Hanel, Sprecher des Arbeitskreises Wehrtechnik Schleswig-Holstein. „Wir gehen davon aus, dass aufgrund der geplanten Steigerung der Verteidigungsausgaben der Personalbestand in der wehrtechnischen Industrie, der in Schleswig-Holstein einen Allzeit-Höchststand erreicht hat, und auch die Investitionen in die Infrastruktur der Unternehmen weiter erheblich ansteigen werden.“

Das Münchner ifo Institut für Wirtschaftsforschung berichtete diese Woche: Im vierten Quartal 2024 sei die Wirtschaft in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern im Vergleich zum dritten Quartal gewachsen, auch Hamburg legte leicht zu. In traditionell wirtschaftsstarken Bundesländern wie Bayern und Baden-Württemberg hingegen ging die Wirtschaftsleistung etwas zurück. „Die Industrie im Norden entkoppelt sich von der gesamtdeutschen Entwicklung“, teilte das Institut mit, „wobei der Aufschwung in der Rüstungsindustrie hier eine zentrale Rolle spielt.“

Gemeint sind damit Schwergewichte der Branche wie Deutschlands größtes Marinewerftunternehmen ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) in Kiel, Weltmarktführer beim Bau nicht-nuklear angetriebener U-Boote, aber auch die Bremer Marinewerft-Gruppe Naval Vessels Lürssen (NVL) oder German Naval Yards in Kiel. Rüstungsgüter produziert Airbus in seiner Sparte Defence and Space unter anderem in Bremen, dort werden Rumpfsegmente für den Militärtransporter A400M montiert. Zu den großen Akteuren der Branche im Norden zählt zudem die ThyssenKrupp-Tochter Atlas Elektronik, ein weltweit führender Hersteller von Elektronik für Kriegsschiffe mit Hauptsitz in Bremen.

Der Bau von Marineschiffen ist längst das wichtigste Segment des deutschen Schiffbaus insgesamt. Die Werft in Wismar etwa gehört nach einer Reihe von Insolvenzen und Eignerwechseln seit der deutschen Einheit inzwischen zu TKMS, dort sollen künftig – wie in Kiel – vor allem U-Boote gebaut werden: „Die Nachfrage nach unseren Plattformen und Technologien ist schon heute groß, und wir gehen davon aus, dass sich die Verteidigungsausgaben in unseren Zielmärkten allein bis 2030 noch deutlich steigern werden“, teilt TKMS auf Anfrage mit. „Vor diesem Hintergrund investieren wir in den Ausbau unserer Kapazitäten. Wir haben seit 2019 allein am Hauptstandort Kiel mehr als 250 Millionen Euro investiert, und es sind weitere Investitionen in der Höhe eines niedrigen dreistelligen Millionenbetrags in die Wismarer Werft geplant.“

Zur norddeutschen Rüstungswirtschaft zählen aber auch kleinere, hoch spezialisierte Unternehmen wie Flensburger Fahrzeugbau, das Panzer aufarbeitet oder umbaut, und eben Vincorion in Wedel. An seinem Hauptsitz produziert Vincorion vor allem Panzerteile und Halbleiter, im bayerischen Altenstadt fertigt das Unternehmen mobile Systeme zur Stromversorgung für Feldlager und für die Luftabwehrsysteme Patriot und Iris-T, in Essen unter anderem Elektronik für Panzer. In seinem Büro in Wedel erklärt Vincorion-Chef Kajetan von Mentzingen den Kurs des Unternehmens: „Im Jahr 2023 hatten wir 163 Millionen Euro Umsatz, 2024 waren es 204 Millionen Euro und in diesem Jahr peilen wir 250 Millionen Euro an“, sagt er. „Von 2024 bis 2028 wird sich der Umsatz von Vincorion voraussichtlich verdoppeln.“ Derzeit etwa 550 der insgesamt 900 Mitarbeitenden bei Vincorion arbeiten in Wedel. Rund 100 Menschen stelle Vincorion im Jahr neu ein – bei etwa 5700 Bewerbern im Jahr 2024.

Nötig für eine effektive Aufrüstung sind neue Netzwerke von Unternehmen. „Das ,Partnering‘, zum Beispiel mit Startup-Unternehmen, wird für uns sehr wichtig, vor allem dann, wenn es um ,Sprungtechnologien‘ geht, um besonders innovative Technologien“, sagt von Mentzingen. „Aber wir kooperieren mit anderen Unternehmen auch, um einzelne Arbeitspakete zu teilen, damit wir Kapazität in der Fertigung gewinnen.“ So arbeite Vincorion mit „einem relativ jungen Unternehmen“ aus der Branche der Batterieentwicklung zusammen: „Hintergrund ist, dass wir bei Hybridantrieben von Panzern eine führende Rolle spielen wollen. Hybridantriebe haben viele Vorteile, unter anderem, dass die Motoren kleiner und damit leichter ausgelegt werden können.“ Für einen Hochlauf der Produktion sei mehr „Planungssicherheit“ bei der deutschen Verteidigungspolitik wichtig, sagt von Mentzingen: „Aufträge sind im Moment nicht unser Problem. Um zusätzliche Order bedienen zu können, müssen wir den Hochlauf der Produktion weiter vorantreiben und organisieren.“ Entscheidend sei der europäische Markt: „Europa hat jetzt eine Riesenchance, seine Verteidigungsindustrie neu zu denken. Einen lauteren Weckruf als den aus den USA kann es nicht geben.“

Das wichtigste Rüstungsunternehmen in Hamburg ist die Werft Blohm+Voss, die zu NVL gehört. Bei Blohm+Voss werden Großkampfschiffe endmontiert und ausgerüstet. Fünf Korvetten werden dort aktuell für die Deutsche Marine fertiggestellt, es folgen sechs – größere – Fregatten des neuen Typs F126. Danach soll die nächste Fregattengeneration F127 gebaut werden, um deren Konstruktion und Bau sich Naval Vessels Lürssen gemeinsam mit TKMS bewirbt. „Für potenzielle künftige Projektvorhaben wie die Fregatten der Klasse 127 haben wir wichtige personelle und infrastrukturelle Voraussetzungen geschaffen. Allein im vergangenen Jahr haben wir uns mit rund 400 neuen hoch qualifizierten Mitarbeitenden personell deutlich verstärkt und umfassend in unsere Infrastruktur investiert“, teilt NVL mit, das mehrere Werften in Norddeutschland betreibt.

Aus Sicht der Handelskammer Hamburg, die rund 180.000 Unternehmen vertritt, ist die Widerstandskraft der Wirtschaft im Ernstfall Voraussetzung dafür, um überhaupt produzieren zu können. Ende 2024 habe die Handelskammer den Aktionsplan „Resiliente Wirtschaft – Resilientes Hamburg“ erarbeitet, sagt Hauptgeschäftsführer Malte Heyne. Es gehe darum, „dass sich die Unternehmen selbst und im Netzwerk der Hamburger Wirtschaft, Behörden und Katastrophenschutzorganisationen auf einen Spannungs- und Verteidigungsfall vorbereiten. Wie zum Beispiel kommuniziert man in einem hochkomplexen Unternehmen nach einer Cyberattacke? Darauf müssen die Unternehmen, gemeinsam auch mit der Handelskammer, zeitgemäße Antworten finden.“ Am 6. Mai veranstaltet die Kammer zum Thema Verteidigung und Resilienz der Wirtschaft eine Konferenz unter anderem mit dem stellvertretenden Inspekteur der Bundeswehr.

Der Blick nach vorn ist dabei auch ein Blick in die Vergangenheit: „In der Handelskammer beschäftigen wir uns unter anderem damit, wie Unabkömmlichkeitsbescheinigungen für unverzichtbare Fachkräfte in Unternehmen systematisiert bearbeitet und behandelt werden“, sagt Heyne. „Das gab es seit der Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland im Jahr 2011 nicht mehr.“

Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Seit vielen Jahren berichtet er unter anderem auch über die Marinerüstung und die daran beteiligten Unternehmen.

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