Es ist ein normaler Frühlingstag in Sumy. So normal er eben sein kann, mitten im Krieg und nur 30 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt.
Am Palmsonntag ist die Stadt belebt, Menschen strömen in die Kirchen. Aus dem Nichts schlagen russische Raketen ein. Verkohlte Bäume, ausgebrannte Autos, ganze Häuserfassaden, die in Trümmern liegen: Die Wucht der Einschläge lässt sich bereits auf wackligen Handyvideos erahnen.
Ein Mädchen mit blutverschmiertem Gesicht weint in der Armen einer Frau, ein älterer Mann sitzt auf einer Bank und schreit seine ohnmächtige Wut heraus. Eine Aufnahme zeigt, wie Rettungskräfte versuchen, eine Frau zu beruhigen. Neben ihr liegen aufgereiht drei Leichensäcke. Die vorläufige Bilanz: mindestens 35 tote Zivilisten und über 100 Verletzte.
Bruch des Völkerrechts, Kriegsverbrechen: Westliche Staaten erheben schwere Vorwürfe gegen Moskau. Treffen sie auch zu? «Ein Kriegsverbrechen ist eine gravierende Verletzung des humanitären Völkerrechts», erklärt Andreas Müller, Professor für Völkerrecht an der Universität Basel.
Das humanitäre Völkerrecht zielt darauf ab, die Auswirkungen von bewaffneten Konflikten zu begrenzen. Zu seinen wichtigsten Regeln gehört das Verbot, Zivilisten oder zivile Ziele direkt anzugreifen. «Die Kriegsparteien sind verpflichtet, zu jedem Zeitpunkt zwischen Zivilisten und Kombattanten zu unterscheiden», sagt Müller.
Völkerrechtler Müller hält es für nachvollziehbar, wenn etwa Friedrich Merz Russland «schwerster Kriegsverbrechen» bezichtigt. Auch, weil es bisher keine Anzeichen dafür gibt, dass die Zivilsten in Sumy von fehlgeleiteten Raketen getroffen wurden.
Immer wieder gibt es zivile Opfer, immer wieder sterben auch Kinder.
Das russische Militär hat den Doppelschlag mit zwei Iskander-Raketen inzwischen bestätigt. Es spricht aber von einem Angriff auf ein Treffen ukrainischen Offiziere und bezichtigt Kiew, Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen.
Tatsächlich gab es in Sumy am Wochenende eine militärische Versammlung, an der Medaillen verliehen wurden. Wäre ein solcher Angriff völkerrechtlich gedeckt? Laut Müller müsste hier eine Abwägung der Verhältnismässigkeit gemacht werden. Kernfrage: Wiegt der zu erwartende militärische Vorteil die zu erwartenden Opfer in der Zivilbevölkerung auf?
Für den Experten ist klar: Am helllichten Tag ein belebtes Stadtzentrum anzugreifen, um einige Militärangehörige auszuschalten, sei nicht vom humanitären Völkerrecht gedeckt. «Auch in diesem Szenario wären die Kollateralschäden viel zu gross und die Hinweise auf ein Kriegsverbrechen wären erdrückend.»
Die Frage nach dem Warum
SRF-Korrespondent David Nauer war immer wieder im Kriegsgebiet in der Ukraine, zuletzt vor wenigen Tagen. Er stellt fest, dass Russland seit einigen Wochen verstärkt zivile Ziele angreift. «Immer wieder gibt es zivile Opfer, immer wieder sterben auch Kinder.» Die Frage bleibt: Warum macht Russland das?
Für Nauer dürfte darin auch eine Botschaft an die USA und die Ukraine stecken. «Die Russen reden zwar, machen aber auch klar: Diesen Krieg werden Waffen entscheiden, nicht Worte. Der Kreml führt diese Verhandlungen wie jemand, der mit gezückter Pistole zu einem anderen geht und sagt: Lass uns einen Kompromiss finden.»
Nauers ernüchterndes Fazit: Diese Taktik dürfte nicht zu Frieden, sondern zu mehr Krieg führen.
Diskutieren Sie mit:
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke