Die USA haben die ganze Welt mit neuen Zöllen überzogen - und den globalen Handel in schwere Turbulenzen gestürzt. Über die Folgen spricht WTO-Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala im Interview mit dem ARD-Studio Genf.
ARD-Studio Genf: Lassen Sie uns mit den immer lauter werdenden europäischen Ideen beginnen, ob es nicht eine neue, eine Art "WTO 2.0" brauche. Was halten Sie von diesen Vorschlägen?
Ngozi Okonjo-Iweala: Das System ist in einer Weise gestört, wie wir es in den vergangenen 80 Jahren nicht erlebt haben. Deshalb fragen sich viele: Funktioniert es noch - und wie funktioniert es? Ja, die Störung ist da. Die gute Nachricht ist aber: Das System ist widerstandsfähig. Es gibt einen stabilen Kern des Welthandels. 72 Prozent des Welthandels laufen nach den WTO-Regeln. Die Frage ist nun: Wie stellen wir sicher, dass dieser Kern stabil bleibt, und wie reformieren wir das System so, dass es funktioniert und für die Zukunft richtig aufgestellt ist? Ich denke, das ist mit "WTO 2.0" gemeint. Es geht nicht darum, ein paralleles System zu schaffen. Kein EU-Spitzenvertreter hat mir so etwas gesagt.
Zur Person Ngozi Okonjo-Iweala ist seit März 2021 Generaldirektorin der Welthandelsorganisation WTO in Genf. Zuvor war sie Finanzministerin Nigerias. Sie ist die erste Frau an der WTO-Spitze.ARD-Studio Genf: Sie sagen, niemand sei mit so einer Idee zu Ihnen gekommen, aber Bundeskanzler Merz und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen haben öffentlich erklärt, sie wollten eine neue Version der WTO schaffen - das jetzige System funktioniere so nicht mehr. Wieso also sagen Sie, man sei nicht auf Sie zugekommen - es wurde doch öffentlich gesagt?
Okonjo-Iweala: Diese Führungspersönlichkeiten wollen kein paralleles System schaffen, sondern die WTO reformieren. Und das ist für uns in Ordnung, denn wir müssen die bestehende WTO reformieren und dafür sorgen, dass das, was heute nicht gut funktioniert, verbessert wird. In jeder Krise liegt auch eine Chance - eine Chance zur Reform, nicht zur Gründung einer Parallelorganisation. Wenn EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sagt, die EU solle sich am CPTPP-Handelsabkommen ausrichten und eine Übereinkunft anstreben, um sich so an den pazifischen Freihandel anzunähern, ist das völlig in Ordnung - auch im Rahmen der WTO. Solche Abkommen ergänzen die WTO; sie sind nicht parallel zu ihr. Dieses Missverständnis möchten wir ausräumen.
ARD-Studio Genf: Könnte eine "Koalition der Willigen" innerhalb der WTO eine Lösung sein - sogar beim blockierten Streitbeilegungs-Mechanismus?
Okonjo-Iweala: Zunächst: Die WTO ist nicht nur Streitbeilegung - das möchte ich betonen, denn darüber gibt es falsche Vorstellungen. Es gibt bereits viele Mitglieder, die Fälle einbringen und dabei Wege wie Mediation, Schiedsverfahren und den Übergangs-Berufungsmechanismus der WTO nutzen - der wurde von der EU und anderen Mitgliedern entwickelt, dafür gebührt ihnen große Anerkennung. Dieses Verfahren kann anstelle des offiziellen WTO-Berufungsausschusses eingesetzt werden. Und zwei Fälle wurden so bereits beigelegt, ein dritter ist anhängig. Unsere Mitglieder finden sehr kluge Wege, das System arbeitsfähig zu halten - und darüber freuen wir uns.
"Man kann nicht ständig hyperventilieren"
ARD-Studio Genf: Ein sehr relevanter Teil der WTO betrifft aber eben Zölle. Sie haben in Davos im Januar zu den Staats- und Regierungschefs sinngemäß gesagt: Entspannt euch - wegen der Zölle nicht hyperventilieren. Acht Monate später: Sind Sie jetzt bereit zu hyperventilieren?
Okonjo-Iweala: Ganz und gar nicht. Man kann nicht ständig hyperventilieren, denn wir leben in einer unsicheren Welt. Als ich das sagte, wusste ich genau, wovon ich rede: Mit Unsicherheit werden wir auf absehbare Zeit leben müssen. Wenn aber Unsicherheit ein fester Bestandteil des Wirtschaftens ist - wie oft soll man dann hyperventilieren?
ARD-Studio Genf: Manche Volkswirtschaften leiden jedoch bereits stark unter diesen Zöllen. Was kann die WTO dagegen tun, wenn ein Präsident einfach Zölle gegenüber der ganzen Welt verhängt?
Okonjo-Iweala: Ja, es gibt Auswirkungen - wir haben das durchgerechnet. Der Welthandel wird dennoch leicht wachsen. Die Zölle haben Auswirkungen und Störungen verursacht; davor dürfen wir nicht die Augen verschließen - das tue ich auch nicht. Die Realität ist: Viele Länder sind betroffen.
Die Kosten des "tit for tat"-Prinzips
ARD-Studio Genf: Und was können Sie konkret tun?
Okonjo-Iweala: Der richtige Umgang besteht nicht darin, in Panik zu geraten und zu hyperventilieren - so löst man keine Probleme. Sondern: Dialog führen - mit dem Mitglied, das die Zölle eingeführt hat, um zu vernünftigen Lösungen zu kommen. Wir haben allen Mitgliedern gesagt: Keine "Auge-um-Auge"-Reaktionen. Die Versuchung ist groß: "Gibst du mir 50 Prozent, gebe ich dir 30 Prozent“ – tit for tat. Genau das haben wir in den 1930er-Jahren gemacht; es hat die Große Depression verschlimmert. Danach kam der Zweite Weltkrieg - und die Welt hat gesagt: Das funktioniert nicht. Unsere Rolle bei der WTO ist es, unsere Mitglieder zum Dialog zu ermutigen - mit den USA und untereinander - und die Fälle bei uns einzubringen. Wir sind das Forum, in dem Mitglieder ihre Streitigkeiten klären. Und das hilft. Außerdem unterstützen wir Mitglieder auf Anfrage mit Analysen zu den wirtschaftlichen Auswirkungen.
ARD-Studio Genf: Brasilien hat bereits ein formelles Verfahren gegen die Zölle angestoßen. Wie gehen Sie in diesen Streitigkeiten vor - insbesondere mit dem brasilianischen Fall?
Okonjo-Iweala: Zunächst stellt ein Mitglied den Antrag; dann muss geklärt werden, ob die USA Konsultationen mit ihm akzeptieren. Von dort aus regeln die beiden Mitglieder, wie das Verfahren im Streitbeilegungssystem weitergeht. Die USA hat mittlerweile Konsultationen zugestimmt.
ARD-Studio Genf: Aber was lässt sich damit lösen? Der US-Präsident sagt offen, die WTO sei eine ungerechte Organisation und sucht gar nicht den Dialog, den Sie erwähnen.
Okonjo-Iweala: Die Vereinigten Staaten von Amerika sind weiterhin Mitglied der WTO und führen hier Dialog. Wir helfen, Lösungen zu finden - darum geht es.
Reformen in der Welthandelsorganisation?
ARD-Studio Genf: Erhalten Sie noch Geld von den USA?
Okonjo-Iweala: Nach unseren neuesten Informationen sind wir im Weißen Haus von der Streichungsliste genommen worden. Das freut uns sehr, und wir wissen das zu schätzen. Wir arbeiten mit den USA zur Budgetfrage zusammen.
ARD-Studio Genf: Was ist die wichtigste Reform, die bei der WTO ansteht?
Okonjo-Iweala: Wir müssen uns zentrale Themen ansehen: Subventionen - Industriesubventionen, Agrarsubventionen -, unfaire Handelspraktiken, Level-Playing-Field-Fragen. Außerdem müssen wir Entwicklungsländer besser in das System integrieren - das sind die Märkte der Zukunft, also müssen wir sicherstellen, dass sie erfolgreich sind. Und wir müssen Raum für andere schaffen, die sich industrialisieren. Das sind einige der Themen - es gibt nicht die eine Sache. Auch unsere Entscheidungsfindung, also wie wir Entscheidungen treffen, muss reformiert werden.
ARD-Studio Genf: In jedem Interview werden Sie gefragt, wie es ist, die erste Frau und die erste Afrikanerin in diesem Amt zu sein. Nervt Sie das persönlich, und wie gehen Sie damit um?
Okonjo-Iweala: Ich sage immer: Ich hätte mir gewünscht, dass eine Frau vor mir die Chance gehabt hätte - und warum nicht auch eine Afrikanerin? Es gibt fähige Frauen und fähige Afrikanerinnen, die diese Rolle schon früher hätten ausfüllen können. Wenn es nun mit mir beginnt: gut. Ich hoffe, wir haben eine Barriere durchbrochen und es wird künftig leichter für Frauen, Afrikanerinnen oder Menschen jeder Nationalität, dieses Amt zu übernehmen. Darüber hinaus braucht die WTO vor allem eines: kompetentes Management.
Das Interview führten Kathrin Hondl und Stefanie Dodt.
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