Herbst 2022: Hubertus Heil tritt ans Rednerpult des Bundestages. Die Reihen sind nicht einmal halb gefüllt, nur wenige der Abgeordneten ahnen wohl, dass sie gleich eine Rede hören werden, die rückblickend als historisch gelten dürfte. Was der SPD-Arbeitsminister dann vorträgt, ist die Vorstellung des neuen Bürgergeldes, das das in der Partei verhasste Hartz-IV-System ablösen soll.

Auch wenn Heil es sich heute, fast drei Jahre später, nicht selbst eingesteht: Die damals gesteckten Ziele der Reform wurden nicht einmal im Ansatz erreicht. Neue Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA), die WELT exklusiv vorliegen, untermauern nun den ausbleibenden Erfolg der „größten Arbeitsmarktreform seit 20 Jahren“. Einige wichtige Kennziffern wurden im Gegenteil sogar schlechter, andere sind im besten Fall gleichgeblieben. Gleichzeitig stiegen die Ausgaben immer weiter an.

Dass die Debatte um das Bürgergeld oft emotional geführt wird, liegt auch an den hohen Erwartungen, die Heil und Co. damals weckten. „Das bisherige System führt dazu, dass Menschen hin und wieder in Hilfstätigkeiten vermittelt werden, das Jobcenter sie aber nach einigen Monaten wieder sieht. Wir wollen, dass Arbeit sich lohnt, dass Arbeit den Unterschied macht. Es geht um dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt“, rief Heil 2022 im Plenum.

Dann folgte ein Seitenhieb in Richtung der schon damals skeptischen Unions-Abgeordneten: „Das Bürgergeld ist kein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern eine existenzielle Sicherung für Menschen in Not.“ Besonders ein Satz von Heil wirkt aus heutiger Sicht beinahe grotesk: „Der Geist des Bürgergeldes ist der der Solidarität, des Zutrauens, der Ermutigung. Das leistet einen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt.“

Fast drei Jahre später besetzt die SPD zwar immer noch das zuständige Arbeitsministerium, hat bei der jüngsten Wahl jedoch das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte eingefahren. Als einen Grund dafür nennen viele Genossen hinter vorgehaltener Hand ausgerechnet das Bürgergeld. Eine wirkliche Bilanz zur Reform hat das Arbeitsministerium bis heute nicht vorgelegt. Stattdessen wurde mehrfach auf eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verwiesen, die Ende 2026 erscheinen soll – also vier Jahre nach Einführung.

Tatsächlich hat das IAB aber bereits einzelne Forschungsdaten vorgelegt. Zusammenfassend gesagt sind die Erkenntnisse ernüchternd. Demnach zeigt das Bürgergeld bis dato keine klaren Effekte auf die Arbeitsmarktintegration. „Wissenschaftliche Analysen deuten darauf hin, dass die Zahl der Arbeitsaufnahmen bereits vor der Reform rückläufig war und sich bislang kein eindeutiger Einfluss der neuen Regelungen feststellen lässt“, heißt es in der Veröffentlichung, an der 13 IAB-Wissenschaftler beteiligt waren.

Den ausbleibenden Erfolg untermauern nun neue Zahlen der Bundesagentur, die WELT exklusiv vorliegen. So gab es im Jahr 2023 fast genauso viele Zugänge von erwerbsfähigen Bürgergeldbeziehern aus dem sogenannten Leistungsbezug (1.525.039) wie Abgänge 1.519.150. Der Saldo beträgt also fast Null, die Arbeitslosigkeit wurde demnach nicht abgebaut. Zu beachten ist allerdings, dass 2023 zehntausende ukrainische Flüchtlinge direkt nach Ankunft Anspruch auf das Bürgergeld hatten.

2024 zählte die BA 1.433.675 Zugänge ins Bürgergeld, also rund 90.000 weniger. Allerdings waren auch die Abgänge mit 1.499.269 rückläufig – im Jahr zwei nahmen also noch weniger Bürgergeldempfänger eine Arbeit auf, durch die sie ihren Lebensunterhalt decken konnten. Zum Vergleich: Nur im ersten Pandemie-Jahr 2020 war dieser Wert schlechter (1.497.369). Vor zehn Jahren hingegen waren es noch 1.845.769 Abgänge.

Hubertus Heil und auch seine Nachfolgerin Bärbel Bas begründeten die Zahlen stets damit, dass wegen der schlechten Wirtschaftslage die Einstellungsbereitschaft der Firmen rückläufig sei. Das stimmt zwar generell, die Erklärung ergibt aber nur eingeschränkt Sinn. Denn nach wie vor herrscht vielerorts Arbeitskräftemangel.

Das IAB zählte im ersten Quartal 2025 fast 1,2 Millionen offene Stellen, von denen nahezu 80 Prozent sofort zu besetzen waren. Keineswegs werden dabei nur Fachkräfte gesucht. 28 Prozent der Jobs waren für Ungelernte geeignet. Solch einen hohen Anteil an den offenen Stellen für Geringqualifizierte gab es seit Beginn der IAB-Datenreihe noch nie.

Auch bei den Integrationen in Arbeit zeigen sich kaum positive Veränderung durch das Bürgergeld. Zählte die BA 2022 noch 833.609 Integrationen arbeitsfähiger Empfänger brach die Zahl im Jahr eins des Bürgergeldes um sieben Prozent auf 776.611 ein. 2024 immerhin lag der Wert mit 837.095 etwas über dem Ausgangsniveau. Doch auch hier zeigt der Langzeitvergleich: Vor 2019 lagen die Zahlen meist über einer Million.

Eine „Integration“ heißt allerdings nicht, dass die Person den Bürgergeld-Bezug verlässt. Das ist erst der Fall, wenn die Behörde von „bedarfsdeckend“ spricht, man durch einen Vollzeitjob also nicht mehr auf aufstockendes Bürgergeld angewiesen ist. 2022 lag dieser Anteil bei 53,6 Prozent. 2023 sank er minimal auf 53,5 Prozent – hier ist die versprochene Trendwende also auch ausgeblieben. Für 2024 wurde die Quote noch nicht abschließend berechnet.

Was allerdings vorliegt: Die Quote, die zum Ausdruck bringt, wie groß die Chance ist, im nächsten Monat eine Integration zu realisieren. Und sie hat sich ebenfalls verschlechtert. 2022 lag sie bei 1,9 Prozent. In den zwei Folgejahren jeweils bei 1,7 Prozent.

„Die Zahlen belegen: Die Zahl der Leistungsempfänger steigt die letzten Jahre kontinuierlich an. Das Bürgergeld hat sein zentrales Versprechen verfehlt, Menschen wieder in Arbeit zu bringen“, sagt Marc Biadacz, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der Union gegenüber WELT. „Das gefährdet die Akzeptanz unseres Sozialstaats.“

„Das Bürgergeld war ein Irrweg“, sagt Parteikollege Kai Whittaker, der für die Union an einem Grundsatzpapier zur Reform des Bürgergeldes mitgeschrieben hat. „Die Zahl der Abgänge aus dem Leistungsbezug ist gesunken, und die Integrationsquote verharrt auf einem niedrigen Niveau.“

Bei der geplanten Reform des Bürgergeldes gehe es nicht ums Streichen, sondern ums Lenken, sagt Biadacz. „Leistungen sollen mit klaren Erwartungen an Eigeninitiative verbunden sein. Denn Solidarität funktioniert nur, wenn sie auf Gegenseitigkeit beruht“, so der CDU-Mann. „Reformen sind kein Angriff auf den Sozialstaat, sondern seine Voraussetzung.“

Stetig nach oben ging es hingegen bei den Ausgaben für das Bürgergeld. Vor allem die Anhebung der Regelsätze und die steigenden Kosten der Unterkunft, die die Jobcenter in der Regel übernehmen, sorgten für neue Rekorde. 2024 schlugen die gesamten Ausgaben des Bundes und der Länder mit gigantischen 46,8 Milliarden Euro zu Buche.

2026 hingegen will die Bundesregierung die Zahlen nach unten bringen. Durch eine Reform des Bürgergeldes und die Belebung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes ließen sich die Ausgaben um 1,5 Milliarden Euro senken, so die Überschlagsrechnung im Haushaltsentwurf.

Die Kosten senken, das wollte allerdings auch schon Ex-Arbeitsminister Heil. Die Sparziele, die er zwei Jahre in Folge ankündigte, wurden jedoch weit verfehlt. Andrea Nahles, die Chefin der BA, dämpfte jedenfalls schon mal die Hoffnung. Angesichts der wirtschaftlichen Lage sei nur schwer nachvollziehbar, wie man mit einem deutlichen Rückgang der Zahl an Bürgergeldempfängern rechnen könne.

Jan Klauth ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet über Arbeitsmarkt-Themen, Bürgergeld, Migration und Sozialpolitik sowie Karriere-Themen.

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