Um 9:10 Uhr am Freitagmorgen stand der Kompromiss. Harte und zähe Verhandlungen seien das gewesen, sagt Steffen Kampeter auf der Bühne der Bundespressekonferenz, weniger als eine Stunde nachdem die Mindestlohnkommission ihre letzte Sitzung zu Ende brachte. Das Ergebnis: Der Mindestlohn soll von derzeit 12,82 Euro in zwei Schritten steigen: 13,90 Euro ab Januar 2026 und 14,60 Euro ab Januar 2027. Steffen Kampeter, Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes und Stefan Körzell, der für die Gewerkschaftsseite in der Kommission sitzt, betonen die „Einvernehmlichkeit“ des Ergebnisses.
Während in der BPK also Einigkeit demonstriert wird – Körzell und Kampeter sind sichtlich gut gelaunt und erleichtert über den Kompromiss – toben andere in den sozialen Medien bereits als die ersten Meldungen über die Ticker laufen. Juso-Chef Philipp Türmer beispielsweise fordert die Abschaffung der Kommission. Auch Ricarda Lang (Grüne) findet eindeutige Worte, spricht von einer „krassen Enttäuschung.“ Gleichzeitig fordert sie Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) auf, den Beschluss zu übergehen und den Lohn per Gesetz anzuheben.
Denn klar ist: Das Ergebnis ist eine Klatsche für die SPD. Nun rächt sich das vollmundige Wahlkampfversprechen. Der Druck war immens, ebenso wie die Erwartungshaltung. „Wir garantieren 15 Euro“, setzte der Parteivorstand die klare Botschaft. Weil aber die Union bei der abermaligen Anhebung per Gesetz nicht mitmachen wollte, wurde im Koalitionsvertrag recht unverbindlich und schwammig festgehalten: „Der Weg zu einem Mindestlohn von 15 Euro ab 2026 ist erreichbar.“
Nun ist die Enttäuschung umso größer. Arbeitsministerin Bas, die am Wochenende aller Voraussicht nach zur neuen Parteichefin gewählt wird, erteilt den Zerschlagungsplänen jedoch prompt eine Absage. Sie werde der Bundesregierung vorschlagen, die Anpassung per Rechtsverordnung verbindlich zu machen. „Ich weiß, dass um den aktuellen Kompromiss hart gerungen wurde. Das gemeinsame Ergebnis begrüße ich ausdrücklich“, sagt sie. Der Vorschlag bedeutet für Millionen Menschen mehr Geld im Portemonnaie.
Auch in der Parteiführung der SPD wiegelt man ab. „Die Ergebnisse der Mindestlohnkommission sind ein Abbild der derzeitigen wirtschaftlichen Lage. Es ist kein Geheimnis, dass wir uns eine höhere Anpassung gewünscht hätten“, sagt die Vizechefin der Fraktion, Dagmar Schmidt. „Für uns ist klar: Der Mindestlohn muss perspektivisch armutsfest sein und mit der Lohnentwicklung in der Breite Schritt halten. Dafür werden wir uns auch künftig mit Nachdruck einsetzen.“
Was das zwischen den Zeilen bedeutet: Wenn selbst Partei-Linke wie Schmidt nicht auf Konfrontation setzen, wird es keinen Gesetzeseingriff geben. Für die Stimmung auf dem anstehenden Parteitag verheißt das nichts Gutes. Manch einer in der SPD hat hinter vorgehaltener Hand Lars Klingbeils als Parteichef bereits angezählt. Denn er war verantwortlich für den 15-Euro-Wahlkampf; übte selbst massiven Druck auf die Kommission aus.
In der Union hingegen kann man mit dem Ergebnis leben. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche spricht vom „guten Signal.“ „Die Kommission ist handlungsfähig“, sagt Axel Knoerig, Vizechef des Sozialflügels (CDA) der Union. Die neue Geschäftsordnung der Kommission habe sich bewahrt. „Sie schafft klare Verfahren und bezieht ausdrücklich das 60-Prozent-Kriterium aus der EU-Mindestlohnrichtlinie in die Entscheidungsfindung ein.“
In der Wirtschaft ruft die Entscheidung gemischte Gefühle hervor. Einerseits gibt es Erleichterung, dass die Erhöhung auf 15 Euro – das entspräche einem Plus von 17 Prozent – ausbleibt. Dennoch halten viele auch den gefundenen Kompromiss für zu hoch. Die Erhöhungen sei „volkswirtschaftlich gefährlich und betriebswirtschaftlich auf Dauer nicht verkraftbar“, sagt Arndt G. Kirchhoff, Präsident der Unternehmensverbände Nordrhein-Westfalen. „In der zweiten Stufe liegt die Erhöhung im Vergleich zum aktuellen Wert bei fast 14 Prozent und damit deutlich über dem nachlaufenden Tarifindex. Dieses Ergebnis ist Ausdruck einer völlig inakzeptablen Einmischung der Politik.“
Ebenfalls ein Dämpfer für Teile der Wirtschaft: Die Ausnahmen vom Mindestlohn, auf die einige Arbeitgeberverbände gepocht hatten – etwa für Erntehelfer in der Landwirtschaft – wird es nicht geben. Das sehe das Gesetz nicht vor, stellt Christiane Schönefeld, die Vorsitzende der Kommission, klar.
Den Sozialverbänden hingegen geht die Erhöhung nicht weit genug. „Beschäftigte zum Mindestlohn müssen wegen der hohen Preise jeden Euro dreimal umdrehen“, sagt Verena Bentele, Chefin des Sozialverbandes Deutschland (VdK). „Es ist daher unverständlich, warum sich die Arbeitgeberseite sperrt.“ Beim arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) hingegen warnt man vor einem „schleichenden Verlust von einfachen Jobs“. „Mit mehr Netto vom Brutto wäre Mindestlohnbeziehern deutlich mehr geholfen“, sagt Ökonom Hagen Lesch.
Trotz der Einigung ist das Fortleben der Kommission nicht gesichert. Schönefeld spricht von „sehr schwierige Ausgangsbedingungen“ unter dem öffentlichen Druck. „Versuche der politischen Einflussnahme sind mit der gesetzlichen Unabhängigkeit der Kommission nicht vereinbar“, so Schönefeld. Auch in den Folgefragen, die sich aus der beschlossenen Erhöhung ergeben, herrscht Uneinigkeit. „Natürlich wird ein Teil der Mindestlohnerhöhung in die Preise gehen“, sagt Stefan Körzell gegenüber WELT. Eine Gefahr der Lohn-Preis-Spirale sehen die Gewerkschaften aber nicht. „Dafür ist das Volumen zu gering.“
Steffen Kampeter wiederum warnt davor, dass die Preise für Waren und Dienstleistungen genrell steigen könnten. „Denn die Bezahlung insgesamt wird deutlich steigen, nicht nur im Niedriglohnsegment.“ Das gesamte Tarifgitter werde „nach oben geschoben“.
Kommt es tatsächlich so, dass das Preisniveau insgesamt steigt, wird der Mindestlohn auch bei der nächsten Bundestagswahl wahrscheinlich wieder auf der Liste stehen. Die nun erlittene Niederlage dürfte für große Versprechen allerdings eine Warnung sein.
Jan Klauth ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet über Arbeitsmarkt-Themen, Bürgergeld, Migration und Sozialpolitik sowie Karriere-Themen.
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