Die Fußballer von Borussia Dortmund verabschieden sich mit einer grandiosen Leistung aus der Champions League. Der FC Barcelona wird phasenweise an den Rand des Zusammenbruchs getrieben. Das Wunder bleibt aber aus und eine große Sorge bestehen.
Borussia Dortmund verabschiedet sich aus der Champions League. Für diese Saison. Für eine weitere? Für eine kleine, mittlere oder große Ewigkeit? Niemand weiß das an diesem späten Dienstagabend, den Schiedsrichter Maurizio Mariani um kurz vor 23 Uhr beim Stand von 3:1 für den BVB gegen den FC Barcelona beendet hatte. Die schwarzgelben Fußballer hatten im Viertelfinal-Rückspiel zuvor einer gigantischen Utopie nachgejagt. Sie waren im alten Westfalenstadion angetreten, um etwas möglich zu machen, das als unmöglich galt.
Aber sie gaben einen feuchten Kehricht auf all die Widerstände und Verletzungsschocks der vergangenen Tage und Stunden. Sie stürmten auf Barcelona los, wie ein Boxer, der in der ersten Runde auf den K.-o.-Schlag aus ist. Nach vier Minuten scheiterte Serhou Guirassy. Nach sechs Minuten wollte ganz Dortmund einen Elfmeter, weil Yan Couto im Strafraum getroffen worden war. Nach elf Minuten führte der BVB. Guirassy verwandelte einen Elfer. Pascal Groß war von Wojciech Szczesny abgeräumt worden.
Barcelona flogen Angriffe und Grätschen um die Ohren. Dem Stadion beinahe das Dach weg. Die Utopie war nun keine mehr. Sie war einem Fußballspiel gewichen, in dem alles möglich schien. Die Supermannschaft von Supertrainer Hansi Flick, die den BVB im Hinspiel beim 4:0 in Grund und Boden gespielt hatte, hatte zwar elf Spieler auf den Rasen geschickt. Anwesend war indes nur einer: Frenkie de Jong. Er war überall. Er löschte, was er löschen konnte, und sah dennoch viele Dortmunder Angriffe, die zu Brandherden für sein Team wurden. Über Karim Adeyemi, über Maxi Beier und immer wieder über den nicht aufzuhaltenden Guirassy. Es war reichlich Glut da, aber es brannte (noch) nicht lichterloh.
Yamal verzweifelt, Süle räumt ab
Bei Barca ging nichts. Gar nichts. Das neue Fußball-Weltwunder Lamine Yamal bekam keinen Ball unter Kontrolle, der trickreiche Raphinha prallte ständig an der nüchternen Sachlichkeit von Niklas Süle ab. Hätten die Spieler des BVB ein besseres Entscheidungsmanagement gehabt, was wäre hier schon zur Pause möglich gewesen. Ein Pass in den Rücken, der den schnellen Laufweg verhinderte. Ein verpasster Steckpass. Ein Dribbling zu viel. Es waren so viele Kleinigkeiten, die das Wunder verbauten.
Nach 30 Minuten hatte Barca die wilden Krieger vorerst befriedet, konterte selbst aber schwach, um dann direkt nach der Pause Gefahr zu laufen, sich tatsächlich zu Europas Lachnummer zu machen. Guirassy erhöhte auf 2:0 (49.). Das Stadion drohte für Momente komplett aus der mächtigen Verankerung zu fliegen. Es dröhnte, bebte, knallte. Die Gesänge wurden lauter und lauter. Eine mitreißende Magie erfüllte das Stadion.
Hansi Flick schaute nach 52 Minuten schon verzweifelt auf die Uhr. Doch zwei Minuten später riss er die Arme hoch, der zuvor fehlerlose Ramy Bensebaini hatte alle Hoffnung des BVB mit einem Eigentor zerfetzt. Er drückte eine scharfe Hereingabe von Fermin Lopez über die Linie. Im Hinspiel war er ständig überfordert gewesen, nun lange ein Held, am Ende ein tragischer. Barca jubelte, die Dortmunder feierten ihre Mannschaft, die ihnen lange einen Abend geschenkt hatte, an den nur die wildesten Träumer geglaubt hatten.
Was ist das nur für eine Mannschaft?
Aber vorbei war hier gar nichts. Barca übernahm, konnte aber den endgültigen K.-o.-Schlag nicht landen. Wie eine abrupt geschlagene Gerade mit der Führhand landete Guirassy den nächsten Treffer, 3:1 (76.). Es war noch reichlich Zeit. Und dann stand es plötzlich 4:1. Julian Brandt hatte getroffen. Dortmund drehte komplett durch. Für Sekunden. Dann die schreckliche Gewissheit: Abseits. Dem Hauch von zwei menschlichen Körperlängen war der Spielmacher überführt worden. Diese Enttäuschung hatte gesessen.
Die Südtribüne war da längst in der Liebe zu ihrem Verein versunken. Es war ein Abend, der eigentlich mehr Liebe als Hoffnung sein würde, so klar waren die Vorzeichen. Doch dann spielte das Spiel verrückt. Die Lieder der Vergangenheit wurden angestimmt und geleiteten die Mannschaft von weit vor Anpfiff zum Schlusspfiff und zur Tür aus der Königsklasse. Diese Mannschaft, die ihnen auf der Südtribüne so nah und so fremd ist. So nah, weil sie das Trikot tragen, das sie lieben. Weil sie in Europa, auf der großen Bühne, so mitreißende Abende wie diesen schaffen kann. So fremd, weil sie mit ihrer Wankelmütigkeit, ihrer Rätselhaftigkeit nie richtige Dortmunder Jungen geworden waren. Wieder einmal spielte da eine Mannschaft, die kaum eine Zukunft in Schwarzgelb hat.
An diesem Abend durften sich diese Fußballer aber noch einmal Applaus abholen. Einige von ihnen vielleicht zum letzten Mal. Diese Fußballer hatten sich gegen ein erneutes Desaster gewehrt. Sie waren personell massiv geschwächt, aber sie waren gerannt, sie hatten gegrätscht, sie hatten sich voll verausgabt. Sie hatten großartig gespielt und heißblütig und würdig ihre Farben vertreten. Und waren für sich eingestanden. Sie waren eine Mannschaft. Sie waren Borussen. Endlich einmal. "Ich habe noch nicht so viele Spiele für Borussia Dortmund gemacht, wo wir so füreinander eingestanden sind und so gekämpft haben", bekannte Süle in einem durchaus bemerkenswerten Interview. "Ich denke, man hat von der ersten Minute an gesehen, dass wir dran glauben."
Süle wirft eine heikle Frage auf
Der stets umstrittene Abwehrmann war "mega stolz" auf die Leistung seiner Teamkollegen. Allerdings müsse sich der BVB nun einmal mehr dringend die Frage stellen, "warum wir das in der Bundesliga nicht hinbekommen." Die seit Jahren diskutierte Frage "müssen wir uns jetzt Freitag, Samstag, Sonntag, wenn es gegen Gladbach geht, stellen und dann hoffentlich eine ähnliche Leistung zeigen." Er selbst hat keine Antwort: "Diese Frage stellen sich viele schon einige Jahre. Ich glaube, wir besitzen unglaublich viel Qualität. Das steht außer Frage. Aber dieser unbändige Wille, den wir heute hatten. Wie wir den Gegner angelaufen sind und so eine Mannschaft wie Barca, die zu den besten der Welt gehört, unter Probleme gesetzt haben, dass die lange Bälle geschlagen haben. Diesen Vorwurf müssen wir uns gefallen lassen", so der 29-Jährige.
Der FC Barcelona ist derzeit das, was man die "Benchmark" im europäischen Fußball nennt. Der FC Barcelona lässt das Spiel Fußball oft so einfach aussehen, so schnell, so magisch. Das Dortmund diesen Riesen dominierte, macht die Leistung umso größer. Der FC Barcelona hat Pedri, Gavi, Lamine Yamal. Er hat eine Zukunft, eine große. Der BVB hat all das nicht, er kämpft verzweifelt um die Hoffnung. Doch wer steht für sie? Vielleicht Felix Nmecha, der als umtriebige Mittelfeldspinne Sicherheitsnetze ins Dortmunder Mittelfeld wob, bis er sich schließlich verletzte und lange ausfiel. Nun kämpft er sich zurück und bot dem Star-Mittelfeld von Barcelona Stirn und Körper. Vielleicht der schwer verletzte Nico Schlotterbeck, der das Stadion mit seiner Energie immer wieder zu Spannungshöhepunkten trieb. Vielleicht Guirassy, der aber viel Werbung für sich selbst macht. Vielleicht doch noch Jamie Gittens? Er war im Herbst schon zum nächsten 100-Millionen-Euro-Mann hochgeschrieben worden. Dann wurden die Gerüchte um gigantische Transfers lauter und der Engländer fiel in ein Loch. Ein Loch, so tief wie man es in Dortmund zuletzt auf Phoenix-West gesehen hat, bevor aus dem alten Stahlwerk ein See wurde.
Stahl, das war Dortmund. Bier und der BVB ebenfalls. Der Stahl ist Geschichte. Das Bier fließt weiter, aber viele Brauereien gibt es nicht mehr. Der BVB ist noch da, er hat noch Kraft, aber wie lange? Was in diesem endlosen Sommer passieren wird, das kann an diesem Dienstagabend niemand vorhersagen. Stand jetzt wird Trainer Niko Kovac bleiben, Sportvorstand Sebastian Kehl ebenso. Klubboss Lars Ricken hat ihnen mit einem sehr großen Vertrauensvorschuss die Versetzung erteilt. Der Champions-League-Held von 1997 muss die Zukunft gestalten, er wird Hans-Joachim Watzke im Herbst endgültig ablösen und sehnt sich nach Ruhe in seinem Herzensklub. Er steht in turbulenten Zeiten im Wind, den Konflikt zwischen Kaderplaner Sven Mislinitat und Sportvorstand Kehl hat er entschieden, Mislintat musste gehen. Kehl bleibt und bekam mehr Macht. Er steht dringend in der Bringschuld, er hat dem Kader seit Jahren keine große Kraft hinzufügen können. Mit dem Abgang von Jude Bellingham im Sommer 2023 ist die Mannschaft immer schwächer geworden.
Der Kampf gegen den Untergang
Sie kämpft nun um die Champions League, die auf Strecke überlebenswichtig ist. So viel Geld gibt es dort zu verdienen. Einen nicht geringen Teil ausfallender Einnahmen könnte der BVB über die Klub-WM im Sommer kompensieren. Geld, das der BVB, dessen Personalkosten in der Saison 2023/24 bei über 260 Millionen Euro lagen, unbedingt braucht, um im Hier und Jetzt zu bleiben. Eine Nummer in Europa. Eine Adresse, keine Erinnerung. Es ist ein verzweifelter Kampf. Wie schnell er verloren gehen kann, gibt es in der Nachbarschaft zu bestaunen. Der FC Schalke spielte vor sechs Jahren noch Königsklasse, in dieser Saison kämpfte er lange gegen Abstieg in die 3. Liga.
In der Bundesliga hängt die Qualifikation des BVB für die Champions League am seidenen Faden. Sechs Punkte beträgt der Rückstand auf den Klassenfeind RB Leipzig. Fünf Spieltage stehen noch an. Das wird eine verdammt enge Nummer. Womöglich muss der Klub tatsächlich für mindestens eine Saison Abschied von der Königsklasse nehmen. Zuletzt war das 2015/16 der Fall. Damals spielte der BVB in der Europa League und schrieb dort eine Geschichte, über die man sich bis heute noch erzählt. Wie man damals mit Thomas Tuchel beim FC Liverpool bei Jürgen Klopp im Viertelfinale kollabierte. Wie man ein 1:3 aus der Hand gab und 4:3 verlor.
Im tiefen Schmerz der Niederlage entstand eine neue Kraft. Borussia Dortmund ließ alles hinter sich, auch den erschütternden Anschlag auf die Mannschaft, der den Bruch mit Trainer Tuchel zur Eskalation trieb. Es kamen, wenn schon keine triumphalen, immerhin großartige Jahre. Mit einer fußball-romantischen Drama-Geschichte. Zweimal wurde die Meisterschaft seit 2018 auf fürchterliche Weise verspielt, es gab Tränen und Liebe. Und immer wildere Trainerentscheidungen. Zeit für Nachhaltiges blieb nicht. In der Sehnsucht nach oben wurde jedem Tief eine Übersprungshandlung entgegengesetzt.
Die Zeit der Goldjungen begann
Und dennoch blieb der BVB immer oben, weil großartige Transfers gelangen. Es begann die Zeit der Goldjungen im Ruhrgebiet. Ousmane Dembélé kam, zauberte und nervte den Klub am Ende mit seiner kindlichen Bockigkeit. Mittlerweile ist der Franzose bei Paris St. Germain zu einer riesigen Nummer im Weltfußball geworden. Nachdem er zuvor Partyleben und Fastfood beim FC Barcelona zu sehr genossen hatte. Es folgten Christian Pulisic, Jadon Sancho, Erling Haaland und Bellingham. Sie reiften zu Weltklassespielern, nahmen die Mannschaft auf ihre Schultern und trugen sie zum Pokalsieg. Das tat ihr gut. Das tat allen gut. Ihre Verkäufe brachten viel Geld. Da war ein guter Kreislauf in Gang gekommen. Der BVB erneuerte sich selbst. Er übertünchte, dass auf jeden Haaland auch ein Nico Schulz folgte. Die Gehaltskosten explodierten, die Leistungen nicht.
Es war ein Spiel mit dem Feuer. Der aufstrebende Heldenfußball brauchte fortwährend Nachschub. Doch der fehlt. Ein neuer Held ist nicht in Sicht, ein 100-Millionen-Mann schon gar nicht. Nicht auf lange Bahn. In einer magischen Nacht wie an diesem Dienstagabend wachsen plötzlich viele, ehe sie allzu oft am Wochenende drauf wieder schrumpfen. Gittens hatte seine Momente, aber nicht dieses außergewöhnliche Paket, was das Dembélé, Haaland oder Bellingham schulterten. Im Sommer versuchte der BVB mit Serhou Guirassy, Waldemar Anton, Maximillian Beier gegenzusteuern. Und mit Pascal Groß, wobei der keine Verpflichtung war, die eine große Ertragssteigerung versprach. Groß ist 33, eher auf der Zielgeraden unterwegs. Er sollte ein Stabilisator für das Hier und Jetzt sein. Er ist es zu selten. Wie so viele aus dieser Mannschaft einfach zu selten sind, was sie sein sollen, sein wollen. Julian Brandt etwa als Gesicht der Mannschaft, Niklas Süle als Chef der Abwehr, Marcel Sabitzer als Antreiber im Mittelfeld.
"Heute haben wir das beste Spiel gemacht, seitdem ich hier bin", schwärmte Trainer Niko Kovac, der seinen Systemfehler aus dem Hinspiel wieder reparierte und eine stabile Dreierkette aufbot. "Wir müssen aus diesem Spiel die Kraft ziehen, das Vertrauen, den Glauben daran, was wir können. Ich hoffe, dass die Jungs heute gesehen haben, was möglich ist."
Stürmer Guirassy liefert Tore. Sein furioser Hattrick gegen Barcelona lässt ihn heller strahlen, als er oftmals war. Innenverteidiger Anton kämpft darum, überhaupt als Verstärkung durchzugehen, machte aber ausgerechnet gegen die Spanier mit ihren offensiven Monstern ein überragendes Spiel. Und Beier zeigt erst seit ein paar Wochen, warum er als ein neuer Typ Thomas Müller gilt. In bester Schmidtchen Schleicher-Manier hatte er etwa am Samstag im Klassiker der Fußball-Bundesliga Bayerns Abwehrmonster Minjae-Kim beim 0:1 düpiert, als er unbemerkt um ihn herumtanzte und die Mondball-Flanke von Julian Ryerson einköpfelte. Mit Beier könnte was entstehen, aber nichts, was beim BVB in diesem Sommer den Goldjungen-Kreislauf wieder in Gang setzt.
Die Planung wird ewig schwer, die Champions League als Bühne können die Dortmunder niemand versprechen. Das macht das lukrativste Transferregal derzeit unerreichbar für die Borussen. Aber anders als der FC Barcelona etwa, der den gigantischen finanziellen Kollaps durch kaum zu durchschauende Deals abwendete, kann sich der BVB nicht auf eine "La Masia" verlassen, auf eine unverschämt zuverlässige Jugendakademie, die Goldjungen wie am Fließband produziert. Für den Moment schimmerten sie an diesem Dienstagabend auch in Dortmund.
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