Routinen sind für viele Profisportler Teil ihres Erfolgsgeheimnisses. Sie können auch objektiv sinnvoll und hilfreich sein, um den Fokus zu schärfen, Automatismen abzurufen oder Selbstvertrauen aufzubauen. Manchmal liegen sie einfach nur Aberglaube zugrunde. Auf einem Bein auf den Fußballplatz hüpfende Spieler gehören zum gewohnten Bild. Tennisfans erinnern sich an Boris Beckers Zunge oder Rafael Nadals Zupfer, und hat man je einen 100-Meter-Sprinter vor dem Start gesehen, der keinen Ritualen folgte?
Amerikaner denken vor allem an Wade Boggs. Der Baseball-Held der Achtziger und Neunziger malte vor jedem Gang an die Schlagplatte das hebräische Wort für Leben in den Sand. Und vor Abendspielen war der Schlagkäfig ab 17.15 Uhr vermintes Gelände, da Superstar Boggs stets um 17.17 Uhr sein Einschlagen beginnen musste. Exakt zwei Stunden später verrichtete er seine Sprintübungen. Boggs liebte bekannte Wege und gewohnte Abläufe, auch beim Essen. Vor ausnahmslos jedem Spiel gab es Hühnchen, was ihm schon früh seinen bis heute geläufigen Spitznamen bescherte: Chicken Man.
Seinen World-Series-Titel mit den New York Yankees und die zwölf All-Star-Nominierungen kann dem 67-Jährigen niemand mehr nehmen. Der Titel des Hühnchenmannes gebührt aber längst einem anderen amerikanischen Profisportler. Denn was sich bei Boggs an etwa 160 Spieltagen im Jahr wiederholte, ist für Mikal Bridges tägliche Routine. Der Basketballprofi der New York Knicks isst seit zwölf Jahren jeden Tag ausnahmslos das gleiche: weißen Reis mit einer doppelten Portion Hühnchen, dazu Mais und Salat, zusammengemixt als Bowl und bestellt bei Chipotle. Die Restaurantkette aus Denver ist in Nordamerika mit 4000 Filialen weit verbreitet.
Eine unglaubliche Gewohnheit und offenbar keine Ente. Bridges hat seine Routine selbst bestätigt. Er habe über all die Jahre lediglich die Sauce verändert, verriet er. Statt Hot Salsa lasse er sich von den Mitarbeitern nur noch einen Mix aus mittelscharfer und milder Abstufung der Salsa über seine Mahlzeit kippen.
Zwölf Jahre Hühnchen und Mais – eine Monotonie, bei der mancher Ernährungswissenschaftler sorgenvoll die Flügel über dem Kopf zusammenschlagen dürfte. Doch Bridges weiß die besten Argumente auf seiner Seite. Denn dass der Small Forward nicht als „Chicken Man“ durch die NBA springt, obwohl er nach erfolgreichen Drei-Punkt-Würfen seinen Kopf einem Huhn nicht unähnlich von links nach rechts wackelt, liegt in einer anderen, noch beeindruckenderen Serie begründet. Mikal Bridges ist der Iron Man.
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Seit dem 24. Oktober 2018 spielt der 29-Jährige in der NBA. Zunächst lief er für fünf Spielzeiten bei den Phoenix Suns auf, anschließend von 2023 bis 2024 für die Brooklyn Nets, seitdem versucht er den New York Knicks wieder zu großen Erfolgen zu verhelfen. Das Bemerkenswerte: Er verpasste in seinen nunmehr siebeneinhalb Spielzeiten keine einzige Partie, weder in der regulären Saison noch in den Play-offs. Das NBA-Cup-Finale am 16. Dezember in Las Vegas gegen die San Antonio Spurs wird sein 600. NBA-Spiel in Folge. Ein Maß an Kontinuität, das in jedem professionellen Sport außergewöhnlich wäre. Im intensiven und zehrenden NBA-Zirkus mit bis zu vier Spielen pro Woche geradezu unglaublich.
In der 80-jährigen Geschichte der Profiliga gelang es gerade einmal zehn Spielern, mehr als 600 Matches in Folge zu absolvieren. Die Anforderungen an die Athletik der Basketballspieler waren schon immer hoch, sind durch die konstante Steigerung von Tempo und Intensität aber immer weiter gewachsen. Seit 2000 kam mit Andre Miller gerade mal ein Spieler hinzu, der die magische Marke knackte. Sein Lauf endete nach Spiel Nummer 632.
Hoch springen, explosiv sprinten, kraftvoll aufposten, immer wieder Richtungswechsel und Abstoppbewegungen: eine Tortur für Bänder, Muskeln und Gelenke. Verletzungen sind in der Liga Normalität, Ruhepausen – vor allem für die wichtigsten Spieler der Teams – unweigerlich.
Bridges zählte in seinen Mannschaften zweifelsohne immer zu den Leistungsträgern. Die Knicks zahlten fünf Erstrundenpicks, einen Pick-Swap und einen Zweitrundenpick an den Stadtrivalen, um ihn vor eineinhalb Jahren zu verpflichten. Bridges ist kein Muskelprotz, der mit seiner Masse die Gegner unter den Körben durch die Zone schiebt. Dafür aber schnell, geschmeidig und dank seiner Armspannweite von 2,15 Metern ein hervorragender Verteidiger. 2022 landete er bei der Wahl zum Defensive Player of the Year auf Platz zwei. Und auch sein Dreier ist für die Knicks mittlerweile zu einer echten Waffe geworden. Der Sieg über die Boston Celtics in den Eastern Conference Halbfinals 2025 ist eng mit Bridges verknüpft. Dazu kommen seine Verlässlichkeit und Disziplin.
Seinen Körper scheinen die Strapazen allerdings nicht allzu sehr zu stören. Bereits in seinen drei Jahren am College ließ der Flügelspieler keines der 116 Spiele für die Villanova Wildcats aus. Das letzte Mal, dass seine Mannschaft ohne ihn auf dem Feld stand, war in der Highschool. Im Team der Great Valley Highschool aus Malvern in der Nähe von Philadelphia war er von seinem Trainer in einem Spiel nicht berücksichtigt worden, um ihn für das bevorstehende State Tournament, das Finalturnier des Bundesstaats Pennsylvania, zu schonen.
Seitdem sprintet Bridges zuverlässig die Basketballcourts rauf und runter. Rastlos. Pausenlos. Bis heute. „Er hat in jedes Team, für das er aufgelaufen ist, Energie gebracht. Das macht ihn so besonders“, sagt Mitspieler Karl-Anthony Towns über seinen Nebenmann und meint damit nicht nur dessen Einsatz auf dem Platz: „Wir alle wissen um sein Talent und seine Fähigkeiten, aber die Energie und Persönlichkeit, die er in die Kabine bringt, diese selbstbewusste Art, die er der Mannschaft verleiht, wurde bislang unterbewertet.“
Denn auch wenn der Dauerbrenner natürlich um seine besondere Serie weiß, gibt es keine Anzeichen, dass er sich Erhalt und Fortführung dieser mit seinem Spiel verschreibt. Bridges ist keiner, der dosiert, sich schont oder gar versteckt, um ein paar Körner zu sparen. Kein Teilzeitarbeiter und Zeitschinder. Das exakte Gegenteil ist der Fall: In der vergangenen Saison lief er mit 459,47 Kilometern mehr und weiter als alle anderen Spieler in der Liga. Das sind knapp elf Marathons und mehr als jemals ein Spieler seit Beginn der Datenaufzeichnung im Jahr 2013 in einer Saison zurückgelegt hat. Angesichts der Zunahme der Spielgeschwindigkeit in den vergangenen Jahren dürfte es sich dabei um eine Bestmarke der NBA-Geschichte handeln.
Nur zweimal musste für Bridges ein Kniff her, um die Serie nicht reißen zu lassen. Am 9. April, dem letzten Spieltag der regulären Saison 2022/2023, beging er im Trikot der Brooklyn Nets nach vier Sekunden ein Foul, um anschließend direkt wieder vom Feld geholt zu werden. Und auf den Tag genau ein Jahr später – ganz Mann der Routinen – wiederholte sich das bizarre Schauspiel. Bridges, mittlerweile zum Stadtrivalen in den Madison Square Garden gewechselt, foulte nach sechs Sekunden einen Gegner und verließ vorbei an grinsenden Mitspielern und Schiedsrichtern das Feld. In beiden Fällen sollte Bridges für die bevorstehenden Play-offs geschont werden – freilich ohne seine Serie zu zerstören.
Diese ist seitdem weiter konsequent angewachsen. Unter den aktiven NBA-Spielern folgt der vier Jahre ältere Harrison Barnes von den San Antonio Spurs mit 323 Spielen in Folge im Ranking der Dauerbrenner auf Platz zwei. Um der größte Iron Man in der Geschichte der Liga zu werden, müsste Bridges allerdings noch einige Jahre verletzungsfrei bleiben.
Sein 596. Spiel am 6. Dezember gegen die Utah Jazz bedeutete gerade mal die Hälfte des Weges auf der Zeitleiste des ewigen A.C. Green. Der heute 62-Jährige verpasste in seiner langen Karriere kein einziges NBA-Spiel wegen einer Verletzung und stand vom 19. November 1986 bis zu seinem Karriereende am 18. April 2001 in jedem der 1192 Matches auf dem Feld.
Von einer vergleichbaren kulinarischen Monotonie wie bei Bridges ist bei der Lakers-Ikone zwar nichts überliefert. Green bewies aber auf einem anderen Sektor eiserne Disziplin. Der streng gläubige Christ verordnete sich sexueller Enthaltsamkeit und bekannte sich während seiner Karriere zur Jungfräulichkeit. Bridges, kinderlos, hat sich dazu bislang nicht geäußert. Greens Serie zu knacken, dürfte ohnehin schwierig werden und selbst bei anhaltender Gesundheit, Fitness und Leistungsstärke noch mindestens sieben Saisons dauern.
Gewisse Rekorde haben vielleicht einfach für die Ewigkeit Bestand. Womit wir wieder bei Wade Boggs wären. Der Baseballstar trank an einem Tag 107 Biere, allein 73 davon auf einem Flug von Boston nach Los Angeles, wo am folgenden Tag ein Major-League-Baseball-Spiel anstand. Boggs trat fünfmal ans Schlagmal, erreichte viermal auf die Bases und schlug dabei zwei Doubles.
Wenn Lutz Wöckener nicht gerade irgendeinen Sport im Selbstversuch ausprobiert, schreibt er über Darts und Sportpolitik, manchmal aber auch über Abseitiges wie Fußball.
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