Seoul, 19. September 1988, 12 Uhr: Es war der Beginn einer bis heute einmaligen Leistung eines deutschen Sportstars. Zu jenem Zeitpunkt fiel der Startschuss über die 100 Meter Freistil bei den Olympischen Spielen. Die Leipzigerin Kristin Otto, damals 22 Jahre alt, holte Gold. Auf die ungewöhnliche Uhrzeit hatte sie sich schon lange vor der Abreise nach Asien eingestellt. „Wir haben unser Training so eingerichtet, dass wir auch mittags schnell schwimmen können. Vor dem Frühstück am Wettkampftag bin ich dann noch 800 Meter geschwommen, um richtig locker zu sein.“

Fünf weitere Olympiasiege sollten folgen – alle in Südkorea. Sechsmal Gold bei ein und denselben Spielen, das schaffte vor und nach ihr kein deutscher Sportler. Nach den weiteren Titeln über 100 Meter Rücken und mit der 100-Meter-­Freistil-Staffel am 22. September, übrigens binnen einer Stunde, den 100 Meter Schmetterling am 23., der Lagen-Staffel am 24. und den 50 Metern Freistil am 25. September titelte die DDR-Sportzeitung „Deutsches Sportecho“: „Die einmalige Regentschaft von Königin Kristin Otto I.“

Überraschend war Ottos Dominanz nicht, doch mit gleich sechsmal Gold hatte niemand gerechnet, da sie erst von zwei schwereren Verletzungen genesen war. In Guayaquil 1982 und Madrid 1986 war sie schon insgesamt siebenmal Weltmeisterin geworden. 1986 auch über die 200 Meter Lagen. Doch diese Strecke ließ die gebürtige Leipzigerin in Seoul aus. „Ich will kein weiblicher Mark Spitz werden“, soll sie gesagt haben. Der Amerikaner holte 1972 in München siebenmal Gold.

Bestmarke bis heute – Der große Medien-Hype blieb aus

Für die DDR-Schwimmerin wären noch mehr Olympiasiege drin gewesen, doch das verhinderte die Politik. Schon 1984 in Los Angeles wäre sie Favoritin gewesen. Der Gegen-Boykott eines Großteils der Ostblock-­Staaten verhinderte die ersten Otto-Spiele. Quasi als „Entschädigung“ erhielt sie für ihre sportlichen Höchstleistungen 1984 vom Staat den Vaterländischen Verdienstorden in Gold. Vier Jahre später war es der Karl-Marx-Orden, die höchste staatliche Auszeichnung der DDR, den sie aus den Händen des damaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker († 81) entgegennahm.

1988 in Seoul stellte die 1,85 Meter große Athletin eine Bestmarke auf, die bis heute steht. Vor und nach ihr gelang es keiner Schwimmerin, bei denselben Olympischen Spielen die Titel über 100 Meter Freistil und Rücken zu gewinnen.

Trotz all dieser Triumphe blieb der große Medien-Hype außerhalb der DDR aus. Als Katarina Witt (60) im selben Jahr zum zweiten Mal Eiskunstlauf-Gold geholt hatte, überschlug sich der Westen förmlich und feierte „Das schönste Gesicht des Sozialismus“. Bei Otto ging es zurückhaltender zu, was ihr sicher nicht unrecht war. Im Mittelpunkt zu stehen – das war nie ihr Ding, glaubt man ihrem Umfeld damals wie heute.

„Ich bin ein geselliger Mensch, der sich in der Familie, in der Gruppe, im Kollektiv am wohlsten fühlt“, schrieb sie nach ihrer Rückkehr aus Seoul in einem Gastbeitrag für das „Deutsche Sportecho“. Das Team beflügelte sie nach eigener Aussage zu den Erfolgen. „Ohne dieses gegenseitige Begeistern wäre ich nicht Tag für Tag obenauf gewesen. Ich brauchte meine Kameraden, genauso wie ich versucht habe, sie mit meiner Fröhlichkeit in die richtige Stimmung zu bringen.“

Mit vier Jahren Rückenschwimmen gelernt

Schon als Kleinkind begann sie mit dem Schwimmen, aber nicht in der DDR. Familie Otto lebte einst in Dubna, 120 Kilometer nördlich von Moskau, wo Vater Georg als Physikprofessor arbeitete. Dort lernte sie auch schwimmen. „Die erste Lage war Rücken und hat ihr unheimlich viel Spaß gemacht. Da war sie vier Jahre alt“, sagte der Papa 1988 nach dem Siegeszug seiner Tochter in Südkorea. Daher spricht Otto auch gut Russisch.

Nette Episode am Rande: In Leipzig wohnte die Ausnahme-­Schwimmerin Ende der 80er-Jahre mit Schwimmkollegin Silke Hörner (60/zweimal Gold, einmal Bronze) und dem Turner Sven Tippelt (60/einmal Silber, zweimal Bronze) im selben Haus. Mit achtmal Gold, einmal Silber und dreimal Bronze das wohl olympischste Gebäude Deutschlands.

Doping-Vorwürfe, stets negative Kontrollen und Reaktionen

Nach der Wende sah sich Otto wie fast alle DDR-Sportstars Doping-Vorwürfen ausgesetzt. Sie verwahrt sich bis heute dagegen, wissentlich gedopt zu haben. Ihr langjähriger Trainer Stefan Hetzer (74) und der DDR-Teamarzt Horst Tausch, die Doping zugaben, standen vor Gericht und wurden auch verurteilt.

Ottos Arbeitgeber, das ZDF, stand stets zu ihr, obwohl ihr Name in Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit in Zusammenhang mit Anabolika-Doping auftauchte. Sie soll, wie viele andere Sportler, Oral-Turinabol bekommen haben. Der ehemalige ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender (76) nahm Otto immer in Schutz: „Frau Otto hat im Jahr 2000 eine Erklärung abgegeben, nie gedopt zu haben. Solange keine Beweise gegen sie auf dem Tisch liegen, solange stehen wir zu ihr.“

Tatsächlich wurde sie nie positiv getestet, worauf sie immer verwies. In den 90er-Jahren sagte sie im „Aktuellen Sportstudio“: „Ich bleibe dabei (nie etwas Verbotenes genommen zu haben), was meine negativ ausgefallenen Dopingkontrollen belegen.“

Manche reagierten weniger verständnisvoll. 2013 wurden ihr die von der Fachzeitschrift „Swimming World“ verliehenen Titel als „Weltschwimmerin des Jahres“ für 1984, 1986 und 1988 aberkannt. Allerdings nicht nur ihr, sondern allen DDR-Athleten, die je diese Auszeichnung erhalten hatten. In der „Hall of Fame“ des Schwimmsports in Fort Lauderdale, in die sie 1993 aufgenommen wurde, durfte sie bleiben.

Karriere als Journalistin im Fernsehen

Den Dokumenten, in denen ihr Name in Zusammenhang mit Doping auftaucht, glaubt sie nicht. Da ihr nie etwas bewiesen werden konnte, arbeitet sie bis heute beim ZDF. Schon während Olympia 1988 war der Berufswunsch Journalistin vorgezeichnet. Nach dem Abitur im Juni 1988 begann sie beim DDR-Rundfunk kurz vor den Spielen beim Sender Leipzig ein Volontariat.

1989, nach ihren EM-Titeln acht und neun in Bonn, beendete sie ihre Schwimmkarriere. Seit 1992 ist sie beim „Zweiten“, seit 1995 moderierte sie den Sport in den „Heute“-Sendungen sowie im „Mittagsmagazin“. 2023 übernahm sie die Leitung der „Sportreportage“, die sie 16 Jahre lang präsentiert hatte. Dazu ist sie Leiterin der Redaktion „Sport täglich“.

Reden will Kristin Otto heute nicht mehr über ihre Vergangenheit. Eine Anfrage von „Sport Bild“ lehnte sie ab.

Der Text wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, „Bild“, „Sport Bild“) erstellt und zuerst in der „Sport Bild“ veröffentlicht.

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