Er hat mit 36 Jahren bereits viel erlebt, doch das war selbst für ihn neu. Auf die Empfehlung eines Mannschaftskollegen besuchte Thomas Müller unlängst einen Barbershop in Vancouver. Es gefiel ihm – die Bartpflege gehört seit Kurzem zum Alltag des Fußballprofis. Müller hat sich einen Vollbart stehen lassen. Ein Sinnbild für seinen neuen Lebensabschnitt in Kanada, der erfolgreich begonnen hat und der an diesem Wochenende einen weiteren Höhepunkt für Müller bereithält.
Der Weltmeister bereitet sich auf das für ihn größte Spiel seit seinem Wechsel zu den Vancouver Whitecaps vor. Am Sonntag (3:30 Uhr deutscher Zeit) empfängt er mit seinem Klub im Halbfinale der Western Conference der Major League Soccer (MLS) den Los Angeles FC, dessen Star der südkoreanische Stürmer Heung-Min Son ist, der früher für Bayer Leverkusen und den HSV spielte.
Das K.-o.-Spiel ist ausverkauft, mit rund 55.000 Zuschauern wird es eine Rekordkulisse geben. Nach wenigen Tagen waren alle Karten vergriffen. „Das muss man im Eishockeyland Kanada erst mal schaffen“, sagt Müller. US-Medien nennen es „Müller-Mania in British Columbia“. Die kanadischen Reporter staunen, was der Deutsche auslöst.
Vor gut vier Monaten verließ der erfolgreichste Spieler in der Bundesligageschichte den FC Bayern – nach 25 Jahren beim deutschen Rekordmeister und über 30 gewonnenen Titeln. Der Vorzeige-Bayer, aufgewachsen im kleinen Ort Pähl, ist jetzt der Vorzeige-Auswanderer des kanadischen Profisports. Sein Wechsel nach Vancouver geht bislang voll auf – für den Klub und für Müller. So sehr, dass Müller beschlossen hat, noch eine Saison dranzuhängen. Er wird auch 2026 für die Whitecaps spielen.
Müller hat sich in den ersten Monaten überaus gut eingelebt. Die Whitecaps haben ihre Reichweite in den sozialen Medien – eine wichtige Währung im Fußball – signifikant gesteigert. Gleichzeitig ist es Müller gelungen, auch in Deutschland im Gespräch zu bleiben und viel mehr zu sein als ein berühmter Bartträger mit lustigen Sprüchen. Er ist sportlich erfolgreich. Man sieht und merkt ihm an, dass seine Ansprüche an sich und die Mannschaft weiterhin enorm hoch sind. Tore in der MLS feiert er nicht weniger enthusiastisch als früher seine Treffer in der Champions League. Für seinen Klub kommt Müller bislang auf neun Tore und vier Vorlagen.
Andere ehemalige Nationalspieler verschwanden nach ihrem Wechsel ins Ausland mehr oder weniger aus dem Blickfeld. Anders Thomas Müller. Er hat auch deshalb eine so große Karriere hingelegt, weil er authentisch ist. Diese Authentizität bewegt sich oft am Rande von Klischees: In Bayern wurde er in Lederhosen fotografiert, machte gern Urlaub zu Hause und warb für vegane Weißwurst. In Kanada zeigt er sich jetzt vollbärtig, und auf einer Fahrradtour durch die Stadt ging es auch um die Bedeutung des Bibers. Mit Mitspielern war er angeln, und natürlich besuchte er ein Eishockeyspiel.
Er liefert die Bilder, mit denen Vancouver werben kann: Thomas Müller bei den Vancouver Canucks. Thomas Müller beim Basketballspiel der Toronto Raptors. Thomas Müller an der Seepromenade von Vancouver. Fehlt eigentlich nur noch die einsame Holzhütte am See, an der es sich Müller im Fleecepullover mit einem Ahornsirup-Sandwich zwischen Elchen gemütlich macht.
Doch Marketing ist nur ein kleiner Teil von Müllers neuem Leben in Kanada. Er ist in seiner gesamten Karriere auch deshalb so erfolgreich, weil er sich voll identifiziert – früher seinem Herzensklub FC Bayern, in dessen Bettwäsche er als Kind schlief, und nun mit den Whitecaps. Vor dem Spiel gegen L.A. gab Müller eine Pressekonferenz.
„Fußball ist noch nicht Gesprächsthema Nummer eins in der Stadt. Aber bei den Spielen bekommt man es schon mit, dass Soccer und die Whitecaps deutlich auf dem Vormarsch sind“, sagt er: „Das war ja auch zum Teil die Idee bei meinem Wechsel hierher.“ Vor dem Basketballspiel der Raptors warf er ein paar Körbe – in Lackschuhen. Müller hat sich – nicht nur optisch – neu erfunden und bleibt sich gleichzeitig selbst treu. „Der deutsche Bradley Cooper“, schreibt „Gala“ über seinen neuen Look und vergleicht ihn mit dem Schauspielstar.
Müller nimmt natürlich wahr, was in Deutschland über ihn gesprochen und geschrieben wird. In einer WhatsApp-Gruppe steht er zum Beispiel im Austausch mit golfspielenden Mitarbeitern und Spielern des FC Bayern, Sprüche zu seinem neuen Look nimmt Müller locker. Der Fußball aber bleibt sein Fokus. Vor Beginn des WM-Jahres 2026 ist Müller auch eine Art mediales Bindeglied zwischen Deutschland und Nordamerika.
Kürzlich wurde bekannt, dass er während des Turniers im kommenden Sommer in den USA, Kanada und Mexiko als Experte für MagentaTV arbeiten wird. Mit dem Gewinn der Canadian Championship – quasi dem kanadischen DFB-Pokal – hat er sich kürzlich zum erfolgreichsten Fußballer der deutschen Geschichte gemacht. Müller kommt nun auf 35 Titel, einen mehr als Toni Kroos, und nennt sich augenzwinkernd den „erfolgreichsten Titel-Hamster Deutschlands“.
„Thomas Müller gibt der Mannschaft das Gefühl, dass sie etwas erreichen kann“
Vor ihm spielten schon andere Größen aus Deutschland in Amerika: Franz Beckenbauer für New York Cosmos, Gerd Müller für die Fort Lauderdale Strikers, Lothar Matthäus für die New York MetroStars, Bastian Schweinsteiger für Chicago Fire. Von den Aufgezählten gewann einzig Beckenbauer Titel. Müller hat einige Legenden mit dem Pokalsieg bereits übertroffen – und will mehr. Ihm fehlen noch drei Siege bis zur Meisterschaft. In einem möglichen Endspiel könnte Müller mit Vancouver auf Inter Miami um Superstar Lionel Messi treffen.
An diesem Wochenende kommt es für Müller auch zum Wiedersehen mit Steven Cherundolo, der bis 2014 für Hannover 96 spielte und inzwischen L.A. trainiert. Auch sein Klub hatte sich im Sommer um den einstigen Nationalspieler bemüht. Cherundolo ist beeindruckt, wie schnell sich Müller bei den Whitecaps sportlich zurechtgefunden hat: „Thomas passt perfekt nach Vancouver. Er hat ja alles gewonnen und weiß, wie Erfolg funktioniert. Er gibt der Mannschaft das Gefühl, dass sie etwas erreichen kann.“
In seinen ersten Tagen in Kanada ließ Müller sich eine Liste mit den Namen der Klubmitarbeiter geben und lernte sie auswendig. Zum Einstand sang er vor der Mannschaft „Ain‘t No Sunshine“ von Bill Withers, eine Anspielung auf das Klischee, in Vancouver würde es ständig regnen. Müller findet inzwischen: Vancouver ist eine der schönsten Städte der Welt.
Mit Verteidiger Sebastian Schonlau, einst beim HSV, hat er einen deutschen Mitspieler. Sportdirektor der Whitecaps ist Axel Schuster, der früher für Mainz 05 arbeitete. Vor seinem Wechsel sprach Müller mit ihm und dem dänischen Trainer Jesper Sörensen über den gemeinsamen Plan. Dieser geht bislang voll auf.
„Das Team bekommt von mir mehr nackte Wahrheiten zwischen den Zeilen geliefert, als sie es bisher gewohnt waren und ihnen manchmal lieb ist“, sagt Müller, „die Jungs sind hier supernett zueinander, auf dem Platz nach meinem Geschmack manchmal zu nett. Vielleicht kann ich mit meiner Art ein bisschen vermitteln, dass man nett sein und Dinge trotzdem klar und deutlich ansprechen kann, die besser laufen müssen.“
Er wohnt in einem Wolkenkratzer Downtown, nahe des Meeresarms False Creek, mit Blick auf das Whitecaps-Stadion. Ein Kontrast zu seinem ländlichen Leben in Bayern, wo er bis zu seinem Wechsel mit seiner Frau Lisa auf Gut Wettlkam in Otterfing lebte und sich der Pferdezucht widmete. Wenn er in Vancouver unterwegs ist, wird er oft angesprochen. Auch von Brasilianern, die sich humorvoll über das 7:1 der deutschen Nationalelf bei der WM 2014 beschweren. Oder von Fans des FC Barcelona, die ihn auf das legendäre 8:2 der Münchner gegen die Katalanen in der Champions League vor fünf Jahren ansprechen.
Ein bisschen, das gibt Müller zu, vermisse er den besonderen Druck als Spieler des FC Bayern. Dafür genießt er, dass in Vancouver nach seinem Eindruck mit etwas weniger „Ellenbogen“ Auto gefahren werde als in München. Und was die Organisation seines Gestüts und der Pferde betrifft: Vieles lasse sich digital regeln – auch wenn die neun Stunden Zeitverschiebung manche Meetings erschweren. Er sei in Sachen Pferdestall weiterhin „im Aufsichtsrat“, wie er es grinsend nennt.
Müller hätte auch in andere Länder wechseln können. Ein Transfer zu Hansi Flick zum FC Barcelona hätte ihn unter Umständen ebenfalls gereizt. Müller und seine Familie freuen sich aber jetzt, dass es Vancouver geworden ist. „Es ist unglaublich, dass alles so funktioniert“, sagt sein Vater Gerhard. Mindestens zweimal pro Woche telefoniert Thomas mit seiner Mutter Klaudia, die Eltern besuchten ihn schon in Vancouver.
Weihnachten wird er nach Hause kommen, die Familie freut sich. Und beim FC Bayern hoffen sie, dass Müller künftig wieder dauerhaft in Bayern leben und für den Klub arbeiten wird. Präsident Herbert Hainer schickte gerade eine deutliche Botschaft nach Vancouver: Müller könne beim FC Bayern quasi alles werden, zum Beispiel Botschafter – oder Präsident. Der ehemalige Adidas-Chef wurde kürzlich von den Vereinsmitgliedern für drei weitere Jahre zum Vereinsvorsitzenden gewählt. Hainer ist sicher: Die Zeit im Ausland werde Müller noch reifer machen.
Müller hält sich seine Zukunft nach der Karriere offen. Er weiß, dass eine „Lehrzeit“ wichtig sein kann. Karl-Heinz Rummenigge war mehr als zehn Jahre Vizepräsident, bevor er Vorstandsvorsitzender wurde. Allerdings: Thomas Müller erst einmal in der zweiten Reihe – schwer vorstellbar für Außenstehende. Der Fan-Liebling hält es mit dem Motto Franz Beckenbauers: „Schaun mer mal.“ Erstmal bleibt er im bärtigen Titelhamster-Modus, im Eishockey-Land Kanada.
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