Unter Unparteiischen gibt es eine eiserne Maxime: „Die Nachspielzeit ist der Tod des Schiedsrichters.“ Es sind die Minuten, die ein Spiel komplett kippen lassen können, jede bis dato noch so souveräne Spielleitung zerstören können. Jeder Pfiff wird vom Gefühl her doppelt so kritisch beäugt wie während der 90 Minuten zuvor.
Ein diskutables Tor, ein später Platzverweis – und der Schiedsrichter ist sowieso das Gesprächsthema Nummer eins. Die Nachspielzeit potenziert das Ausmaß der Emotionen rund um ein Fußballspiel. Sie möglichst unbeschadet zu überstehen ist die große Kunst eines Schiedsrichters.
Für die Schiedsrichter in der Ersten und Zweiten Bundesliga könnte das Sprichwort jetzt mehr Bedeutung denn je zuvor bekommen. Die Deutsche Fußball Liga (DFL) plant, die Nachspielzeit künftig sekundengenau in den Stadien anzeigen zu lassen. Das berichtet die „WAZ“. Bislang heißt es in §1 Abs. 9 der Richtlinien zur Spielordnung der DFL: „Der Zeitanzeiger muss in der Stellung 45.00 Minuten bzw. 90.00 Minuten gestoppt werden.“ In Zukunft soll die zusätzliche Zeit nun bis zum Schlusspfiff mitlaufen. Sollte die DFL-Mitgliederversammlung zustimmen, greift die Änderung ab Januar.
Was für mehr Transparenz bei den Stadionbesuchern sorgen soll, ist in Wahrheit die nächste Baustelle für das ohnehin geschundene deutsche Schiedsrichterwesen. Zerfressen zwischen wöchentlichem VAR-„Hass“ (Köln-Trainer Kwasniok) in der Bundesliga und der Erkenntnis, dass es ohne die technische Assistenz leistungsmäßig auch nicht besser läuft (DFB-Pokal), müssen sie sich darauf vorbereiten, was ihnen in Zukunft am Ende eines Spiels blüht.
Man stelle sich vor, der BVB führt knapp gegen die Bayern
Herumfuchtelnde Trainer, die vehement den Abpfiff fordern, weil die Nachspielzeit aus ihrer Sicht ausgereizt ist, können die Schiedsrichter noch ignorieren. Oder im Zweifel sanktionieren, seitdem zur Saison 2019/2020 die Gelben und Roten Karten für Teamoffizielle eingeführt wurden. Neu aber ist der Druck eines ganzen Stadions, der sich zwangsläufig aufbauen wird.
Man stelle sich vor, Borussia Dortmund führt zu Hause mit 2:1 gegen den FC Bayern. Das Schiedsrichter-Team entscheidet sich für fünf Minuten Nachspielzeit. Maximilian Beier liegt in dieser krämpfegeplagt am Boden und muss behandelt werden. Der Schiri will die verlorene Zeit noch einmal obendrauf packen. Was dann passiert?
Die rund 73.000 Kehlen, die es abzüglich des Gäste-Kontingents mit dem BVB halten, werden den Signal-Iduna-Park in ein gellendes Pfeifkonzert verwandeln. Und das wahrscheinlich schon ab Minute 4:40, spätestens aber, wenn die Anzeigetafel die vollen fünf Minuten ausweist. Endgültig Hysterie dürfte dann herrschen, wenn bei 5:30 immer noch nicht Schluss ist. Bislang war die Rolle des zeitlichen Korrektivs einzelnen Stoppuhr-Fetischisten vorbehalten, die den Minutenzähler auf ihrem Handy nach exakt 90 Minuten starteten.
Die Schiedsrichter sind die Antipathie des Publikums zwar durchaus gewohnt, gerade seitdem sie ihre Videobeweis-Entscheidungen offen über das Stadion-Mikrofon kommunizieren müssen. Die neue DFL-Regelung, so denn sie kommt, schafft allerdings nur zusätzlichen Nährboden, um die Unparteiischen unnötig in den Mittelpunkt knapper Spiele zu rücken. Die Schiedsrichter werden noch mehr Resistenz benötigen. Als wäre die Nachspielzeit nicht ohnehin schon der Tod.
Luca Wiecek ist Sportredakteur für WELT. Er ist seit mehr als zehn Jahren selbst Schiedsrichter in der Bezirks- und Kreisliga. In seinen Spielen gibt es niemals mehr als vier Minuten Nachspielzeit.
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