Vier Wochen ist es her, da endete Lucy Charles-Barclays Traum vom zweiten Hawaii-Sieg im berühmt-berüchtigten Streckenabschnitt Energy Lab in den Armen ihres Mannes. Entkräftet, zeitweise gehend und leicht schwankend war sie ans Limit gekommen. Spitzensportler gehen an Grenzen und darüber hinaus, aber die Britin war kurz davor, zu weit zu gehen.

Ihr Mann und Trainer Reece tat das einzig Richtige und nahm sie aus dem Rennen. Dann standen sie da, umgeben von nichts als schwarzer Lavawüste. Sie – schwach auf den Beinen, weinend und in der Umarmung versinkend, dabei die Hände vor ihrem Körper an die Brust ihres Mannes gedrückt. Ein Bild, das um die Triathlon-Welt ging. Herzzerreißend. Viel Respekt erntend, viel Aufmunterung folgend.

Auch der Renntag an diesem Samstag endete für Charles-Barclay in den Armen ihres Mannes – allerdings ganz anders. Es war nicht irgendwo auf der Laufstrecke, sondern nach 1,9 Kilometer Schwimmen, 90 Kilometer Radfahren und 21,1 Kilometer Laufen im Ziel der Ironman-70.3-Weltmeisterschaft in Marbella. Die 32-Jährige schloss ihren Mann dort glücklich und dankbar in die Arme – als neue Weltmeisterin über diese Distanz. Beide lächelten. In den vier Wochen zwischen dem Hawaii-Drama und diesem Marbella-Triumph war viel passiert, der Weg an die Startlinie in Spanien war für die Topathletin ein Kampf.

Kurzer Rückblick. Einen Tag nach dem Rennen in Kailua-Kona, das die Norwegerin Solveig Lövseth gewann, äußerte sich Charles-Barclay ausführlich. Der Ironman Hawaii, daran hatte sie nie einen Zweifel gelassen, ist für sie das Größte. „Dieses Rennen war in den letzten zehn Jahren der Mittelpunkt unseres Lebens. Alles, was mein Mann und ich tun, dreht sich um diesen einen Tag auf Big Island“, schrieb sie bei Instagram. „Ich bin mit ganzem Herzen gelaufen. Ich habe mich an meinen Plan gehalten, alles lief so gut ... bis es plötzlich nicht mehr so war. Ich bin meinem Mann unendlich dankbar für seine Liebe und Fürsorge, mit der er eingegriffen und mich aus dem Rennen genommen hat. Gesundheit steht immer an erster Stelle.“

Reece Charles-Barclay: „Die leichteste Entscheidung“

Ihr Mann meldete sich später selbst zu Wort, sprach von der einfachsten Entscheidung, die er je treffen musste. „Wir kamen einer Grenze nahe, die man niemals überschreiten möchte. Im Moment bin ich einfach nur erleichtert, dass ich heute neben ihr aufgewacht bin und unbeschreiblich dankbar, dass sie wohlauf ist“, sagte er. „Es wird Zeit brauchen, bis der Schmerz nachlässt, aber wir werden ihn gemeinsam bewältigen.“

Charles-Barclay beglückwünschte noch die drei, die es auf das Podest geschafft hatten – und bedankte sich bei Taylor Knibb für einen epischen Kampf, den sich die beiden bis zu ihrem Ausstieg geliefert hatten. „Mögen wir uns beide gut erholen“, schrieb sie, „und für das nächste Rennen stärker zurückkommen.“ Denn Knibb, die 27 Jahre alte Amerikanerin, lieferte nach der Britin das zweite, große Drama auf Hawaii. Drei Kilometer vor dem Ziel begann die Führende wie aus dem Nichts zu schwanken, konnte sich kaum halten, torkelte, versuchte es – aber setzte sich schließlich an den Straßenrand. Nach 8:14:40 Stunden und so kurz vor der Krönung war ihr Körper komplett leer. „Ich bereue nichts“, sagte sie später.

Auch Knibb kehrte in Marbella an die Startlinie zurück – es war ein spontaner Entschluss, bis zuletzt hatte sie abgewartet, ob sie sich ausreichend erholt und von Arzt und Trainer grünes Licht bekommt. Knibb, zuletzt dreimal in Folge 70.3-Weltmeisterin, und Charles-Barclay, 2021 Weltmeisterin auf dieser Distanz, standen somit im Fokus, als am Samstag um 7.50 Uhr der Startschuss fiel.

„Mein Kopf hat mir dabei große Schwierigkeiten bereitet“

Nach 25:05 Minuten im Meer hatte Charles-Barclay – wie gewohnt als Erste – wieder Land unter den Füßen. Gut zehn Kilometer waren dann gefahren, als Knibb aufschloss und überholte. Die Britin aber hielt dagegen und ließ sich bis zum Wechsel auf die Laufstrecke nicht entscheidend abhängen. Dort zündete Knibb zwar den Turbo und brachte 30 Sekunden zwischen sich und ihre Rivalin – doch nach einem Drittel der Strecke drehte sich das Blatt.

Am Ende siegte Charles-Barclay in 4:14:54 Stunden und damit drei Minuten vor Knibb. Platz drei holte sich überraschend und mit einem äußerst starken Rennen die Deutsche Tanja Neubert (4:22:07 Stunden). Die 25-Jährige ist eigentlich auf der olympischen Distanz zu Hause – dies war erst die zweite Mitteldistanz ihres Lebens. „Ein Stern für die Zukunft“, kommentierte die dreimalige Hawaii-Siegerin Mirinda Carfrae.

Charles-Barclay war im Ziel dankbar und glücklich. „Seit Kona waren es harte Wochen. Es war sehr schwierig, die Enttäuschung zu überwinden“, erzählte sie der Triathlon-Plattform slowtwitch. „Und dann gab es in unserer Familie sehr viel Kummer – wir haben ein Familienmitglied verloren.“ Die Britin versuchte in dieser Gefühlslage irgendwie weiterzumachen, zu regenerieren und das Training wieder aufzunehmen. Während der Körper mitspielte, war das Problem ein anderes. „Mein Kopf hat mir dabei große Schwierigkeiten bereitet“, sagt sie. „Ich bin stolz darauf, dass ich durchgehalten und nun hier gewonnen habe. Und ich bin allen, die mich hierher gebracht haben, sehr dankbar und hoffe, dass dies etwas Positives für unsere Familie mit sich bringt.“

Die Erfolge von Charles-Barclay und Knibb ließen auch Dan Lorang aufatmen. Der Erfolgstrainer, der schon Jan Frodeno und Anne Haug zu ihren Hawaii-Siegen gebracht hatte und das deutsche Radteam Red Bull-Bora-hansgrohe trainiert, betreut die beiden. „Ich bin glücklich und stolz auf diese unglaublichen Frauen. Es ist eine große Erleichterung, sie nach dem Zieleinlauf lächeln zu sehen“, schreibt er. „Was für eine körperliche und mentale Anstrengung für sie, nach Kona wieder an der Startlinie zu stehen.“ Und dann ergänzt er: „Herzlichen Glückwunsch an meinen ehemaligen Athleten Steffen Justus, der nun seine brillanten Fähigkeiten als Trainer von Tanja Neubert und vielen weiteren Athleten unter Beweis stellt.“

Neubert wird sich weiter auf die olympische Distanz fokussieren – Knibb und Charles-Barclay werden 2026 nach Hawaii zurückkehren.

Melanie Haack ist Sport-Redakteurin und in Nizza vor Ort. Für WELT berichtet sie seit 2011 über olympischen Sport, extreme Ausdauer-Abenteuer sowie über Fitness & Gesundheit. Hier finden Sie alle ihre Artikel.

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