Die Generalprobe immerhin klappte, und das hätte jeden, der an Theaterweisheiten glaubt, für die Premiere Schlimmes befürchten lassen müssen. Fußball ist schließlich auch eine Form von Theater, bloß mit offenem Ausgang. Das galt sowohl für das Spiel an sich als auch für die technische Revolution, die sich an Allerheiligen 1925, einem 1. November, im Preußen-Stadion zu Münster Bahn brach. Vor 100 Jahren wurde erstmals ein Fußballspiel im damals noch ziemlich neuen Medium Radio übertragen.
Die Ehre kam Preußen Münster und Arminia Bielefeld (Endstand: 0:5) zu, ein Spiel der Bezirksklasse Westfalen und doch erste Liga. Der Fußball vor 100 Jahren spielte sich selbst ganz oben auf Provinzebene ab. Es gab zwei Dutzend erste Ligen, aber noch kein Profitum in Deutschland. Alle Spieler mussten arbeiten, und auch die Reisemöglichkeiten in der unter den Weltkriegsreparationen ächzenden Weimarer Republik erlaubten keine Bundesliga, wie wir sie heute kennen.
Aber warum gerade dieses Spiel? Kickte doch am selben Tag Bayern München gegen den kommenden deutschen Meister SpVgg Fürth (3:2)? Weil auch der Rundfunk noch in den Kinderschuhen steckte, es erst 14 Sendestudios gab und jemand auf die Idee kommen musste, mit dem Mikrofon das Studio zu verlassen. Der Sender Münster, der der „Westdeutschen Funkstunde“ angehörte, hatte sie und im Juni 1925 mit der Übertragung einer Ruderregatta Pionierarbeit in der Sportübertragung geleistet. Er war es auch, der den Ball in die Wohnstuben brachte. Bis dahin wurde der Fußball allgemein für ungeeignet für das Radio gehalten – zu hektisch für den Kommentator und zu kompliziert für Laien. Nun änderten sich die Zeiten.
Der Würzburger Fußballhistoriker Andreas Wittner, ehemaliger Archivar des FC Bayern München, sagte WELT AM SONNTAG: „In der Fachpresse wurde Rundfunk und Sport und im Speziellen der Fußball, sehr schnell thematisiert. Beide Seiten erkannten, dass ein kompetenter Mann am Mikrofon in der Lage war, aus einem an Höhepunkten armen Match ein spannendes Hörspiel entstehen zu lassen. Es gab die Erkenntnis, dass durch solche Übertragungen neue Fußballfreunde gewonnen werden konnten.“ Die „Allgemeine Zeitung für Westfalen“ jedenfalls lobte 1925: „Als Versuch betrachtet, kann man dem Rundfunk Münster nur Anerkennung aussprechen.“
„Von sachkundiger Person geschildert“
Es war freilich ein Start mit Hindernissen. In die Erzählung haben sich mit der Zeit einige Ungenauigkeiten eingeschlichen, zum Beispiel gab es im Sendegebiet Münster am 1. November 1925 exakt 61.185 Rundfunkteilnehmer (Monatsgebühr zwei Reichsmark) statt angeblich nur 6000. Wie viele ab 14.30 Uhr am Radio mitfieberten, lässt sich nicht ermitteln und muss ebenso im Dunkeln bleiben wie die Übertragung an sich. Nach Auskunft des Deutschen Rundfunkarchivs hat es nie eine Aufzeichnung gegeben.
Dr. Bernhard Ernst, damals 26 Jahre jung, war beim WDR-Vorläufer „Westdeutsche Funkstunde“ für den Sport zuständig und erlebte am Vortag eine tadellose Generalprobe. Vom Funkhaus war eine drei Kilometer lange Leitung ins Preußenstadion gelegt worden. Zum Einsatz kamen zwei Mikrofone. Eines auf der Tribüne, einzig um die Stadionatmosphäre einzufangen, und eines hinter einem Tor, „damit der Schlachtenlärm der Kämpfer die Atmosphäre noch besser belebe“ (Dr. Ernst). Dort stand der Kommentator. Sein Mikrofon wurde, wie ein Foto beweist, an ein Hockeytor hinter dem Fußballtor aufgehängt. Zum Schutz für ihn und sein Arbeitsgerät.
Das Pilotprojekt wurde eifrig beworben. Am 1. November erschien im „Münsterischen Anzeiger“ auf Seite eins eine euphorische Vorankündigung, die versprach, dass das Spiel „genügend Abwechslung bieten“ werde „um diesen Versuch interessant zu gestalten … Der Kampf wird in all seinen Phasen von sachkundiger Person geschildert, unterstützt von den Geräuschen der Spieler auf dem Platz und der Begeisterung der Zuschauer“.
Es war geplant, das Tribünenmikrofon abzuschalten, wenn es vor Ernsts Tor heiß herginge, um dann sowohl den Kommentator als auch die Spieler verstehen zu können. Auch berichtete Dr. Ernst eine Woche später im „Halterner Anzeiger“ von der Idee, einen vermeintlich unbedarften Zuschauer abgesprochene Fragen stellen zu lassen, die er und ein Kollege beantworteten, um somit den regelunkundigen Hörern das Spiel näherzubringen. Soweit der Plan.
20 Minuten Funkstille
Doch dann zog ein Techniker der Post am Samstagnachmittag auf einem Kontrollgang in einem Kabelschacht quasi den Stecker, weil er sich laut Dr. Ernst „die neue, bisher nie dagewesene Schaltung für die Übertragung nicht erklären konnte. Also brachte er die vermeintliche Fehlschaltung kurzerhand wieder in Ordnung“. Die Folge war fatal. Dr. Ernst kommentierte eifrig, aber niemand konnte ihn hören. Die ersten 20 Minuten des ersten Rundfunkspiels auf deutschem Boden blieben ein Geheimnis. Das erste von fünf Arminia-Toren bekamen nur die 3000 Zuschauer mit, kein Zuhörer.
Von denen hatten sich etliche in Lokalitäten versammelt. Ein Ohrenzeuge berichtete darüber im Fachblatt „Fußball und Leichtathletik“: „Zu Anfang beider Halbzeiten vernahm man aus dem großen Lautsprecher nichts weiter als ein papageienhaftes Schrillen, ein Gurgeln und Ächzen, dass den Ohren Schmerzen bereitet wurden. Das erste Tor ging in der Brandung aller dieser unbestimmbaren Geräusche unter, und erst mit dem zweiten Tor schienen sich die Luftwellen mit dem Organ des Ansagers in Münster freundschaftlicher zu stellen. Aber trotz dessen beschwichtigender Tröstungen, die für die zweite Halbzeit ein besseres Verständnis versprachen, setzte diese unter noch ärgeren Nebengeräuschen ein. Doch die andächtige Sportgemeinde, die in dem Bielefelder Kaffeehaus die Ohren spitzte, zeigte sich dankbar für jedes Bruchstück des aufgefangenen Kommentars und war zufrieden, dass sie über den Trefferstand jeweils richtig auf dem Laufenden gehalten wurde. Im letzten Drittel der zweiten Halbzeit war die Übertragung gut, ganz zum Schluss sogar sehr gut.“
Dass sie überhaupt zustande kam, war einem Mitarbeiter zu verdanken, der Dr. Ernst spontan das Telefon gab, das ursprünglich für Gespräche mit der Sendezentrale vorgesehen war. Zur zweiten Halbzeit waren dann beide Mikrofone wieder intakt, es war also keine reine Telefonübertragung. Die Tonqualität blieb dennoch mangelhaft, was laut Dr. Ernst „auf den unerwartet stark auftretenden Ostwind zurückzuführen gewesen sein dürfte. Trotzdem aber kam das Kampfbild verständlich durch“.
Nie durch kamen die Namen der Torschützen. Weniger aus technischen Gründen oder weil es Preußen-Mitglied Dr. Ernst jedes Mal die Stimme verschlug – es war die damalige Haltung zum Sport. Auf Zuschriften an den Sender, die das monierten, antwortete er: „Der Gedanke hat etwas Richtiges in sich, doch wird man ihn nur dann ausführen können, wenn es sich um Mannschaften handelt, deren Spieler soweit bekannt sind, dass der größte Teil des Zuhörerkontingents sich unter dem Namen etwas vorzustellen weiß. In unserem ersten Versuch traf das höchstens für einen ganz kleinen Prozentsatz zu.“
Auch beim „Wunder von Bern“ im Einsatz
Das änderte sich in den nächsten 100 Jahren kolossal. Heute verfolgen rund acht Millionen Zuhörer samstags die Bundesligakonferenz der ARD-Sender, trotz Liveübertragungen im Pay-TV.
Nach der Premiere 1925 ging es zunächst langsam voran. In der Lokalpresse finden sich bis Jahresende keine Hinweise darauf, wann das zweite Fußballspiel übertragen wurde. Die Frage konnte auch das Deutsche Rundfunkarchiv nicht beantworten. Im April 1926 jedenfalls war Dr. Ernst wieder bei einer Premiere dabei: in Düsseldorf übertrug der Sender erstmals ein Länderspiel (gegen die Niederlande). Wieder startete er unglücklich, wegen des riesigen Zuschauerandrangs kam er viel zu spät auf seinen Platz. Zum Glück war ein Postdirektor vorläufig für ihn eingesprungen.
Schließlich war Dr. Ernst auch der Mann, der für das Fernsehen das „Wunder von Bern“ 1954 kommentierte. Weil die Filmrollen weggeworfen wurden, kennt die Fußballwelt aber bis heute nur die Stimme von Radiokommentator Herbert Zimmermann.
Udo Muras ist freier Journalist. Er schreibt seit vielen Jahren für WELT über Fußball. Sein Spezialgebiet sind historische Themen dieser von ihm so geliebten Sportart.
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