Im Juli 2019 war Julian Brandt zum BVB gekommen. In jenem Sommer dürfte es gewesen sein, als in Dortmund zum ersten Mal eine Mentalitätsdebatte geführt wurde. In der Saison zuvor war die Meisterschaft knapp verpasst worden – obwohl der BVB zwischenzeitlich neun Punkte Vorsprung auf die Bayern gehabt hatte. Im September 2019 sagte Marco Reus dann in einem Fernsehinterview seine viel zitierten, nicht ganz jugendfreie Sätze: „Ihr mit eurer Mentalitätsscheiße. Das geht mir so auf die Eier!“
Es sollte Reus noch einige Jahre auf die Eier gehen – und Brandt auch. In schöner Regelmäßigkeit wurden sie mit dem Vorwurf konfrontiert, über keine intrinsische Motivation zu verfügen, nicht resilient sein, um sich in Drucksituationen behaupten zu können. Deshalb, so die landläufige These, würde der BVB nie Deutscher Meister werden – was er seitdem auch tatsächlich nicht mehr wurde. Und deshalb hätte das Team, egal in welcher Besetzung und wer gerade Trainer in Dortmund ist, in den beiden vergangenen Spielzeiten auch den Status als Nummer zwei in Deutschland eingebüßt.
„Ich stand schon ganz oft hier und musste mir die Mentalitätsfrage stellen lassen“, sagte Brandt am Dienstagabend, nachdem sich der BVB im Elfmeterschießen gegen Eintracht Frankfurt durchgesetzt und es ins Achtelfinale des DFB-Pokals geschafft hatte. Gut gespielt hätten sie zwar nicht, so Brandt: „Aber wir haben gekämpft, wir haben am Wochenende gekämpft, wir haben in den letzten Spielen gekämpft.“
BVB bekommt keine Selbstzweifel mehr, wenn es spielerisch nicht läuft
Dem ist nicht zu widersprechen: Der BVB ist gerade dabei, sich durch eine schwierige Saisonphase durchzuarbeiten. Die Mannschaft gewinnt Spiele, obwohl sie in einer spielerischen Krise steckt. Es geht ihr nichts leicht von der Hand, aber sie kämpft – bei jedem Spiel aufs Neue. Trotz einer hoffnungslos unterlegenen ersten Halbzeit hätten die Dortmunder den Bayern fast noch einen Punkt abgetrotzt.
Sie gewannen in der Champions League in Kopenhagen trotz eines erneut schwachen ersten Durchgangs mit 4:2. Sie bezwangen den 1. FC Köln mit 1:0, weil sie bis zur 96. Minuten an sich geglaubt hatten. Und sie überstanden am Dienstagabend bei Eintracht Frankfurt mit etwas Glück und viel Kampf 120 Minuten im DFB-Pokal – um dann im Elfmeterschießen eiskalt zu bleiben.
Der BVB zeigt, um einen etwas treffenderen Begriff zu bemühen, Nehmerqualitäten. Das Team von Niko Kovac ist auffällig robust. Es bekommt keine Selbstzweifel mehr, wenn es spielerisch nicht läuft. Und das ist neu.
Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Da ist die Basis: Eine solide Defensive mit drei Innenverteidigern. Das gibt Sicherheit. Dafür muss zwar ein Kreativspieler im Mittelfeld geopfert werden, doch das wird mit Sekundärtugenden kompensiert. Die Dortmunder gehören mittlerweile zu den laufstärksten Mannschaften. Wer hätte das für möglich gehalten? Kovac hat die Spieler geschliffen, hat sie fit gemacht. Und lässt rotieren. Das kann er, weil durch eine verbesserte Prophylaxe Verletzungen erheblich minimiert worden sind. Dadurch wiederum ist ein Konkurrenzkampf entstanden.
Der BVB liegt in der Bundesliga, in der Champions League und im DFB-Pokal gut im Rennen. Die Mannschaft hat die Kritiker, die ihr sowie den Bayern prophezeit hatten, einen hohen Preis für die Klub-WM zahlen zu müssen, widerlegt. Rudi Völler hatte gemutmaßt, dass beide Klubs wegen der Zusatzbelastungen „gefühlt mit fünf Punkten Rückstand in die Saison gehen werden.“ So kann man sich irren.
Eines sollte allerdings trotz der auch schon recht stabilen Entwicklung bedacht werden: Noch wäre es zu früh, das Mentalitätsthema endgültig als eine Debatte von gestern abzutun. Irgendwann wird es auch eine Krise geben, die auf die Ergebnisse durchschlägt. Schafft es Borussia Dortmund auch dann, geschlossen zu bleiben?
Einstweilen aber: Herzlich Glückwunsch zur Mittleren Reife, BVB!
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke