Viele um ihn herum sind gegangen, Robert Andrich aber ist Bayer Leverkusen trotz des großen Umbruchs im Kader treu geblieben. Der 31-Jährige ist seit dieser Saison Kapitän der Werkself. So richtig angekommen ist er vor dem Topspiel beim FC Bayern am Samstag (18.30 Uhr, Sky und im WELT-Liveticker) in dieser Rolle und der neuen Spielzeit aber noch nicht, wie er im Interview zugibt.
Frage: Herr Andrich, Leverkusen hat seit 37 Auswärtsspielen nicht verloren. Sie haben sogar 38 Auswärtsspiele in Folge nicht verloren und sind jetzt Rekordhalter der Liga. Hält Ihre Serie auch bei den Bayern?
Robert Andrich: Diese Zahl ist eine schöne Randnotiz, aber unser Ziel dort ist unabhängig von meinem Rekord. Wir wollen gewinnen.
Frage: Aber wie ist es zu erklären, solange auswärts unbesiegt zu sein?
Andrich: In der Meistersaison haben wir ja überhaupt kein Spiel verloren, dementsprechend auswärts auch nicht. Und das haben wir dann in der Folgesaison durchgezogen, sodass wir bis heute in der Liga auswärts nicht verloren haben. Das zeigt, dass es nicht leicht ist, gegen uns zu gewinnen, selbst wenn wir mal eine schwierige Phase haben. Das ist das Wichtige und Gute.
Frage: Wie ist Ihr Blick auf die Dominanz der Bayern?
Andrich: Aktuell muss man sagen: Bayern ist das Nonplusultra. Sie marschieren, wie zuletzt vor drei Jahren, vorneweg. Man hat das Gefühl: So richtig ist noch keiner nah dran, um ihnen Paroli zu bieten. Ich finde, Dortmund hat es vor allem in der zweiten Halbzeit sehr gut dort gemacht. Da hätten sie vielleicht etwas mitnehmen können, aber in der ersten Halbzeit hätten sie auch schon ein Tor mehr kriegen können. Es gibt mehrere Vereine, die oben ran möchten, die die Möglichkeiten haben, aber noch nicht so weit sind.
Frage: Wann kann Bayer den Bayern wieder richtig im Kampf um den Titel gefährlich werden?
Andrich: Ich glaube, dass wir auch jetzt den Bayern schon wehtun können. Wir haben gezeigt, dass wir auf jeden Fall auf einem sehr, sehr guten Weg sind. Du musst in München einen klaren Plan haben, um gewisse Phasen zu überstehen. Die ersten zehn, 15 Minuten sind immer schwierig. Du brauchst einen sehr, sehr guten Tag und ein sehr gutes Spiel. Aber aufgrund ihrer aktiven Verteidigung hast du natürlich auch gegen Bayern Möglichkeiten.
Frage: Sie treffen zum ersten Mal auf Jonathan Tah als Gegner. Wird das nicht merkwürdig sein?
Andrich: Anfangs war es wirklich komisch, Jona im Bayern-Trikot zu sehen. Es ist immer noch ungewohnt. Aber so langsam können wir damit abschließen. Jona wird motiviert sein, wir werden motiviert sein und wollen ihm ein bisschen in die Suppe spucken (lacht).
Frage: Sie reisen mit Ihrer Familie sogar mit Joshua Kimmich und dessen Familie in den Urlaub. Wie ist diese Freundschaft entstanden?
Andrich: Ich war bei der Nationalelf zunächst enger mit David Raum. Joshua kam dann dazu. Das hatte sich nach dem zweiten, dritten Lehrgang beim DFB mehr und mehr entwickelt. Was vielleicht ganz lustig in dem Zusammenhang ist – ich habe zu Joshua mal gesagt: „Ich weiß nicht, warum – aber ich habe dich gehasst.“ Daraufhin sagte er zu mir: „Hass ist ein schwieriges Wort.“ Viele Freunde fragen mich auch heute noch, wie es sein kann, dass wir uns so gut verstehen. Oft ist es so, dass man sich bereits ein Bild macht, bevor man die Person wirklich kennenlernt. Bei Josh war das so, da hatte ich Vorurteile – nicht gut. Das ist ein passendes Beispiel dafür, dass wir Fußballer häufig auf dem Platz als Person ein anderes Bild abgeben als im richtigen Leben.
Frage: Was genau haben Sie an Kimmich gehasst?
Andrich: Wir beide sind Typen, die im Spiel sehr verbissen aussehen, gelacht wird da weniger. Es hat mich an ihm gestört, dass er auf dem Platz schnell so negativ wirkt, wenn ihm etwas nicht passt. Das mag halt nicht jeder, mir hat es anfangs gar nicht gefallen. Vielleicht, weil man immer irgendwie hofft, dass die Bayern straucheln. Das ist ja eigentlich ein Ausdruck von Respekt. Den haben sie sich über die Jahre hinweg einfach erarbeitet.
Frage: Wie denkt Kimmich über Leverkusen als Konkurrenten?
Andrich: Im Urlaub hatten wir darüber gesprochen, dass die Bayern sich in der vergangenen Saison lange nicht sicher vor uns gefühlt haben. Als sie dann wieder Meister waren, habe ich Joshua gratuliert – so, wie er es 2024 gemacht hatte. Dann hat man auch einige Bilder gesehen, wie die Bayern gefeiert haben. Ich glaube, sie haben mit Vincent Kompany einen Trainer, der ständig auf dem Gaspedal geblieben ist. Kompany hat den Bayern – bitte nicht falsch verstehen – wieder eine gesunde Arroganz im positiven Sinne mitgegeben. Das haben sie auf dem Platz auch gezeigt. Und Joshua hat mir erzählt, dass sie lange nicht mehr so ausgiebig einen Titel gefeiert haben. Das ging wohl über mehrere Tage. Er sagte mir: „Daran habt Ihr einen großen Anteil.“
Frage: Ein schöneres Kompliment kann es von einem Gegner nicht geben.
Andrich: Das habe ich auch so gesehen, ja.
Frage: Wir müssen über Ihre bisherige Saison sprechen. Zwei Platzverweise innerhalb von acht Spielen sind zu viel …
Andrich: Auf jeden Fall. Aber ich würde beide Platzverweise von der Entstehung her in die Kategorie „sehr unglücklich“ einstufen. Ich will nicht nach Ausreden suchen. Ich bin ein Spieler, der sehr viel, manchmal auch zu viel, hinterfragt und nach Lösungen sucht. In manchen Situationen ist es vielleicht besser, weniger darüber nachzudenken, was man macht, anstatt es einfach zu tun. Ich wollte anfangs als Kapitän irgendwie alles in die Hand nehmen. Meine Leistung hat darunter gelitten. Gegen Frankfurt (3:1, d. Red.) habe ich bis zu meiner Gelb-Roten-Karte ein sehr gutes Spiel gemacht. Nach der letzten Länderspielpause habe ich in Mainz auf einer ungewohnten Position rechts in der Dreierkette ein sehr ordentliches Spiel gemacht. Man nimmt sich vor, jetzt in einen Flow zu kommen und Leistung zu bringen.
Frage: Und dann kam die Rote Karte gegen Paris ...
Andrich: Ja, wieder sehr unglücklich aus meiner Sicht. Jeder, der Fußball spielt, sieht in der Situation, dass ich Désiré Doué auf gar keinen Fall mit Absicht den Ellenbogen ins Gesicht drücken will. Ich warte darauf, dass der Kontakt zwischen uns kommt, Körper an Körper – und im letzten Moment weicht er dem Zweikampf aus. Er dreht sich mit dem Gesicht zu mir und ich treffe ihn leider – aber das war definitiv ohne Vorsatz. Natürlich wusste ich, dass es eine Rote Karte wird, als der Schiedsrichter sich die Szene angesehen hat, weil ich leider weiß, wie die Bilder dann aussehen bei einer Wiederholung nach der anderen.
Frage: Viele Fans haben Sie dafür kritisiert. Wie gehen Sie damit um?
Andrich: Natürlich bin ich Kapitän und ein erfahrener Spieler. Es darf mir nicht passieren, aber es passt in diesen aktuellen Gesamtkontext bei mir – so richtig in der Saison bin ich leider noch nicht angekommen. Darüber mache ich mir selbst am meisten Gedanken.
Frage: Ist die Kapitänsbinde womöglich eine zu große Bürde für Sie?
Andrich: Wahrscheinlich werden solche Sachen wie die Platzverweise etwas anders bewertet, wenn man die Binde trägt. Vielleicht wirkt es nach außen so, dass es mir zu viel sein könnte. Wenn du als Kapitän deine Leistung nicht bringst, dann hat das schon eine andere Außenwirkung, als wenn du die Binde nicht hast.
Frage: Also belastet Sie die Binde?
Andrich: Sie belastet mich nicht. Mich belastet grundsätzlich die Situation, dass ich es selbst noch nicht schaffe, in einen Flow reinzukommen. Das bedeutet nicht, dass ich jedes Spiel spielen und dann auch jedes Spiel überragend gestalten muss. Es sind immer mal Brüche dazwischen, das ist schon auch normal. Aber kaum bin ich auf dem richtigen Weg, falle ich kurz runter und muss mich wieder hochkämpfen, um meine gewohnte Leistung zu bringen. Und so ehrlich muss ich sein – auf diesem Level bin ich noch nicht.
Frage: In den sozialen Medien wird Ihnen vorgeworfen, Sie würden sich zu sehr auf Ihr Team bei der „Icon League“ und die YouTube-Doku „Die Andrichs“ mit Ihrer Frau Alicia konzentrieren. Bekommen Sie das mit?
Andrich: Meine Frau nimmt sich vieles zu Herzen, was bei Social Media geschrieben wird, und würde am liebsten jedem zurückschreiben. Ich denke mir eher: „Lass sie doch einfach!“ Dennoch bekommst du gewisse Sachen mit, ob du willst oder nicht. Ich persönlich finde immer, man muss die Dinge in den richtigen Kontext setzen. Aber ich mache YouTube nicht erst seit drei Monaten. Ich habe schon YouTube gemacht, als ich konstant gut gespielt hatte – und ich habe auch da schon „Icon League“ gemacht.
Frage: Sie stört die Pauschalverurteilung!
Andrich: Wenn du nicht gut spielst, heißt es: „Warum färbt er sich die Haare blond oder pink?“ Wenn er gut spielt, sagen viele: „Oh, die Farbe, die sieht aber geil aus.“ Ich würde sagen: Das ist leider Fußball in Deutschland, ich habe ja keine Vergleiche zu anderen Ländern. Viele springen in negativen Phasen immer auf die Dinge an, die vermeintlich für die Leistung schädlich sind. Diese YouTube-Sache ist kein großer Aufwand. Aber meine Frau und ich haben vor zwei Monaten schon gesagt, dass Alicia das künftig erst mal alleine weiterbespielt.
Frage: Wie kam es zu der Entscheidung?
Andrich: Wir wollen einfach ein bisschen Druck aus der Sache nehmen. Das bedeutet nicht, dass mich das belastet oder vom Sport ablenkt und ich das nicht gleichzeitig machen könnte. Doch man muss einfach in gewissen Situationen ein bisschen vernünftig sein. Nach der Roten Karte gegen Paris habe ich kein YouTube gemacht. Wenn es gut läuft, kannst du alles drumherum machen. Dann kannst du zum Beispiel auch ein besonderes Auto fahren. Wenn es nicht läuft, werden dieselben Dinge kritisch betrachtet. In mir läuft das gerade alles über. Das muss ich für mich persönlich mit den richtigen Leuten vernünftig aufarbeiten. Es geht um meine Familie, es geht um die Mannschaft. Es geht darum, dass ich die Qualität, die ich habe, auf den Platz bringe. Aber ich würde schon gerne vielen Leuten einfach mal erklären: Dieser ganze Quatsch, den ihr schreibt, hat nichts mit meiner Leistung zu tun, sondern nur mit dem Momentum.
Frage: Sie haben oft davon gesprochen, dass die WM 2026 Ihr Ziel ist. Wie bewerten Sie Ihre Situation in der Nationalelf?
Andrich: Ich habe mir vorgenommen, in dieser Saison mehr Spielzeit als im letzten Jahr zu haben. Über die Spielzeit wird man dann sehen, ob ich weiter zur Nationalmannschaft gehöre. Ich habe immer mal wieder Austausch mit dem Bundestrainer, und ich weiß schon, was er in mir sieht und an mir hat. Ich kann auch immer ganz gut einschätzen, was ich für einen Einfluss auf eine Truppe habe, unabhängig davon, ob ich jetzt viel auf dem Platz stehe oder nicht. Natürlich ist es aber förderlich, wenn man spielt – und gut spielt. Vor der letzten Nominierung habe ich gedacht: Okay, es ist echt eine schwierige Phase für mich, und wir sind mit Leverkusen auch noch nicht so sattelfest. Es würde mich nicht wundern, wenn ich nicht eingeladen werde. Ich kann die Sachen schon gut einschätzen. Trotzdem weiß ich immer noch, dass es gewisse Dinge gibt, die ich anderen voraushabe, die es nicht so oft in der Nationalmannschaft gibt. Und wenn ich wieder auf mein Level komme, kann ich auch der Nationalmannschaft auf dem Platz wieder in bestimmten Spielen helfen.
Der Artikel wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, „BILD“, „SPORT BILD“) erstellt und zuerst in der „SPORT BILD“ veröffentlicht.
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