Frankfurt erlebt eine absurde Champions-League-Nacht: Die Eintracht zerbricht mit ihrer miserablen Abwehr am FC Liverpool, weil dem harsch kritisierten Florian Wirtz endlich seine ersten Torvorlagen gelingen. Ein fassungsloser Markus Krösche holt zur Wutrede aus.

In der 66. Minute packt Julian Nagelsmann das Fernglas aus. Der Bundestrainer sucht das Stadiondach ab. Denn dort oben schwebt er. Florian Wirtz. Dem auf der Insel in Grund und Boden kritisierten deutschen Nationalspieler gelingt endlich die große Befreiung beim FC Liverpool. All die Last fällt ab, all die harschen Worte, all das Böse. Das Fußballspielen fühlt sich für den 140 Millionen Euro schweren 22-Jährigen wieder leicht an.

Ob es sich wirklich so zugetragen hat mit dem Nagelsmannschen Fernrohr? Fraglich. Aber der Nationalcoach sieht in Frankfurt auch ohne Sehhilfe, wie die Reds die Eintracht in der Champions League mit einer 5:1 (3:1)-Klatsche vorführen. Wie die Horrorabwehr der Frankfurter - wozu die Defensivarbeit der gesamten Mannschaft gehört - abermals zerbricht. Wie Wirtz seine ersten beiden Torvorlagen für sein neues Team spielt, nachdem er zuvor in acht Liga- und zwei Königsklassenspielen weder Treffer noch Assist hatte sammeln können.

Direkt nach der Partie sagt ein ausgepumpter Wirtz am DAZN-Mikrofon bescheiden: "Insgesamt war es okay. Ich weiß, dass ich noch viel mehr kann." Aber auch er weiß, dass er diesen Durchbruch brauchte und so fügt er hinzu: "Ich bin zufrieden, dass wir gewonnen haben und ich endlich mal eine Torbeteiligung habe." Sein Trainer Arne Slot erklärt sogar: "Wenn die Lücken sich öffnen, ist Florian Wirtz einer der besten Spieler."

Wirtz zeigt, wie einfach Fußball sein kann

Es ist nur eine kleine Ballberührung. So simpel und, ach, doch so kompliziert. Aber dann ist er endlich da, der erste Assist des Florian Wirtz im Trikot der Reds (lediglich im Community Shield gegen Crystal Palace war ihm vor der Saison eine Vorlage gelungen). Der DFB-Star spurtet auf rechts geschickt in die Tiefe. Dominik Szoboszlai schickt ihn mit einem tollen Zuspiel, Wirtz schaut kurz hoch, schaltet blitzschnell und passt scharf und zum genau richtigen Zeitpunkt in die Mitte auf Cody Gakpo, der nur noch einschieben muss. Es steht 4:1, die miserable Eintracht zeigt zu diesem Zeitpunkt bereits Auflösungserscheinungen.

Liverpools komplette Mannschaft rennt anschließend nicht nur zum Torschützen, sondern auch zum Vorlagengeber. Herzt ihn, klopft ihm auf die Schulter, hebt ihn in die Höhe. Alle wissen, welcher Druck auf Wirtz gelastet hat. Welche bösen Dämonen in seinem Schädel ihr Unwesen getrieben haben. Die Befreiung soll den kriselnden Reds auch in der Premier League, wo die Truppe, die im Sommer mit Spielern für fast 520 Millionen Euro verstärkt wurde, drei Partien in Folge verloren hat, Aufwind geben. Denn mit einem Wirtz in Topform ist der amtierende Meister zügig wieder vorn mit dabei.

Nagelsmann sieht es, alle der 58.700 Zuschauer sehen es. Zwei perfekt gewichtete Pässe und zack. So einfach ist Fußball. Manchmal zumindest. Oftmals gerade nicht, wie Wirtz seit Monaten genau weiß. Am Sonntag durfte er bei der Pleite gegen Erzrivale Manchester United bereits zum dritten Mal nicht von Anfang an auf den Rasen, auch nach dieser Partie prasselte die Kritik auf den Ex-Leverkusener ein.

Heftige Kritik an Florian Wirtz

Die englischen Medien sind bekannt für ihre harschen Worte. Liverpool-Ikone Jamie Carragher sagte nach der Niederlage gegen United, dass große ausländische Spieler selbst in der schwierigen Premier League "sofort durchstarten" und stellte in Frage, ob Wirtz seine Saison überhaupt noch drehen können würde. Zuvor hatte England-Legende Wayne Rooney in Wirtz gar eine "Schädigung" erkannt, und zwar für die Balance der Reds, weil er nicht ins System der Mannschaft passe. Selbst Darts-Star und Man-United-Fan Luke Littler machte sich über den deutschen Nationalspieler lustig und seine schlechte Statistik lustig.

Wirtz muss sich in Liverpool die Bälle tiefer auf dem Platz holen als in Leverkusen und ist deshalb weniger in Strafraumnähe, wo er Tore und Assists sammeln könnte. Hinzu kommt, dass er mehr Gegenpressing spielen muss im System von Arne Slot, was ihm Kraft raubt für seine Offensivaktionen. Zur Wahrheit gehört aber ebenfalls, dass etliche Reds in einer Krise stecken und deshalb schöne Zuspiele des DFB-Profis oftmals kläglich vergeben werden.

So ist es auch kurz vor der Assist-Befreiung. In der 62. Minute setzt sich Wirtz am rechten Strafraum-Eck durch und passt präzise in den Rücken der Abwehr - aber Szoboszlai gelingt nur ein ungefährliches Schüsschen.

Aber wenn es läuft, dann läuft es eben. Alte Fußballer-Regel. Die gilt immer. Auf dem Bolzplatz genauso wie bei den Profis in der Champions League. Und deshalb läuft es in der 70. Minute, 240 Sekunden nach dem Durchbruch, natürlich viel befreiter und ganz anders. Wirtz legt 22 Meter vor dem Tor wieder ab auf Szoboszlai, der diesmal einfach mal abzieht, weil er von der Frankfurter Horrorabwehr überhaupt nicht angegriffen wird. 5:1.

Frankfurt zerbricht nach der Führung

Zu diesem Zeitpunkt ist Frankfurt bereits komplett zerbrochen. Zerschellt an Wirtz und Co. Aber auch gegen eine Weltklassemannschaft wie Liverpool dürfen indiskutable Fehler wie bei zwei Eckball-Gegentoren in der ersten Hälfte und dann eine zweite Halbzeit komplett ohne Gegenwehr nicht passieren. "Es hat sich in den letzten Wochen oft nicht gut angefühlt", fasst Eintracht-Trainer Dino Toppmöller die derzeitige Krisen-Lage am DAZN-Mikrofon zusammen.

In der zehnten Minute blitzt erstmals die Extraklasse von Wirtz auf: Der DFB-Star erkämpft sich am eigenen Strafraum stark den Ball, tanzt einen Frankfurter aus und spielt dann beinahe aus dem Stand einen traumhaften Diagonalpass über gut 50 Meter genau in den Lauf von Gakpo. Solch eine Kombination bekommen nicht viele Spieler auf der Welt unter Druck auf den Rasen, für diese Genialität haben die Engländer den Ex-Leverkusener geholt. Gakpo gibt an Alexander Isak ab, der aus spitzem Winkel scheitert.

Dann steht es plötzlich 1:0 (26.) für Frankfurt - und auch daran ist Wirtz beteiligt. Er geht an der rechten Außenbahn ins Dribbling gegen Neu-Nationalspieler Nathaniel Brown. Unter großem Jubel gewinnt der Frankfurter das Duell und nach einer Kombination über den gesamten Platz schießt letztendlich Rasmus Kristensen ins Tor. Pechvogel Wirtz lässt zu diesem Zeitpunkt noch geknickt den Kopf hängen, während die Ekstase im Deutsche Bank Park bis in den umliegenden Wald überschwappt.

Krösche rechnet mit Eintracht-Profis ab

Doch die Reds schlagen sofort zurück, auch weil die Eintracht sie einlädt. In der 35. Minute laufen die Frankfurter nach einem Fehlpass in einen fatalen Konter und Hugo Ekitiké, der Ex-Frankfurter, der vor dem Spiel mit warmem Applaus empfangen wird, bleibt eiskalt vor dem Tor, das er genaustens kennt. Er entschuldigt sich für sein Ausgleichstor sofort mit einer Geste in Richtung der Frankfurter Kurve.

Anschließend darf erst Virgil van Dijk (39.) nach einer Ecke von links Ansgar Knauff entwischen und einköpfen, fünf Minuten später kopiert Ibrahim Konaté genau diesen Ablauf nach einer Ecke von rechts zum 3:1-Pausenstand. Viel zu einfach zahlt die Eintracht nach Standards Lehrgeld, weil im Raum verteidigt werden soll, aber niemand sich zuständig fühlt. Dabei waren es eigentlich die Reds, die in diesem Jahr bei Ecken und Freistößen der Gegner regelmäßig patzten.

Auch in den Katakomben spielen sich nach der Partie Szenen ab, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Während Ekitiké nur in Unterhose bekleidet durch die Gänge schlurft und ein paar Trikots signiert, tauscht ein erleichterter Wirtz sein Trikot mit Brown. Beinahe zeitgleich setzt ein fassungslos dreinblickender Frankfurt-Boss Markus Krösche zur Wutrede an: Seine Mannschaft müsse "endlich erwachsen werden" und "jeder einzelne muss ganz eine ganz andere Aggressivität und Fokussierung an den Tag legen", meckert er. "Zweikämpfe annehmen und gewinnen" und dem Gegner "ein bisschen mehr wehtun wollen", das seien jetzt die nötigen Devisen.

"Genickbruch" für Horrorabwehr

Und während ein "gefrusteter" Robin Koch "zu einfache Gegentore" beklagt und die beiden Ecken-Treffer vor der Pause als "Genickbruch" bezeichnet, tritt Liverpool-Kapitän van Dijk souverän und relaxed vor die Mikrofone. "Einfach ein guter Sieg, auf zum nächsten", fasst er die Partie zusammen. Andy Robertson schickt noch ein Lob an Wirtz hinterher: "Er war exzellent heute. Die Leute blicken zu sehr auf Zahlen, er kreiert uns immer unglaublich viele Chancen. Heute sind diese zum Glück endlich zu Toren geworden."

Liverpool atmet am Ende nicht nur wegen dem zum Stadiondach schwebenden Florian Wirtz auf, sondern weil es mit dem Kantersieg die fünfte Niederlage in Folge vermeidet, die den Klub-Negativrekord von 1953 eingestellt hätte. Derweil stellt Eintracht Frankfurt nun nicht nur die schlechteste Abwehr der Bundesliga, sondern hat mit elf Gegentoren nun auch die meisten in der Champions League kassiert.

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