Die Olympischen Winterspiele im kommenden Februar könnten zu einem Heimspiel für Annika Hocke und Robert Kunkel werden. Das Eiskunstlauf-Paar trainiert und lebt in Bergamo, nur eine gute Autostunde von Mailand entfernt, wo sie am 15. und 16. Februar im Paarlauf antreten wollen.

Alles deutet darauf hin, dass sich die Berliner für die Spiele qualifizieren. Und das, obwohl sich Kunkel Ende Juli bei einem Trainingsunfall schwer an beiden Händen verletzt hat. Eine Wunde bis auf den Knochen, eine durchtrennte Sehne und viel Blut – die Horror-Verletzung war nichts für schwache Nerven.

WELT: Wie kam es zu der schlimmen Verletzung?

Annika Hocke: Ich war eigentlich die Schuldige. Es war normales, einfaches Training und wir haben Einlaufübungen gemacht und uns für die Sprünge aufgewärmt. Das ist eine der einfachsten Sachen, eigentlich wie Spazierengehen. Irgendwie habe ich die Zacke erwischt, die vorn an der Kufe liegt und bin gestrauchelt. Da wir Hand in Hand gelaufen sind, wollte Robert mir helfen, damit ich nicht komplett hinfalle.

WELT: Das hat nicht funktioniert …

Hocke: Nein. Ich bin über die Zacke gestolpert. Es war wie über die eigenen Beine beim normalen Laufen zu stolpern. Ich war sofort auf dem Eis, habe Robert mit hinuntergezogen. Ich bin in die Bande gekracht und er hinterher. Robert ist dann im Voll-Speed in meine Kufen gefallen. Er hat mich sofort gefragt, ob bei mir alles gut ist. Ich habe Ja gesagt. Er meinte dann, dass wir mit dem Training weitermachen können.

WELT: Eine Fehleinschätzung unter Adrenalin?

Hocke: Ich habe erst die eine Hand gesehen. Die rechte Hand hat er sich an meiner Kufe aufgeschnitten. Später war klar, dass ein Teil der Mittelfinger-Sehne durchtrennt war. Der linke Zeigefinger sah aus wie nach dem Biss eines Zombies. Die Zacke des Schlittschuhs hatte die Haut heruntergerissen. Ich habe seine Hände gesehen und fast angefangen zu weinen, weil es wirklich gruselig aussah. Dann habe ich mir gesagt, dass ich mich zusammenreißen muss. Robert hat hier gerade etwas Schlimmes und nicht du. Du hilfst ihm nicht, wenn du jetzt auch noch dazu ausflippst.

WELT: Das klingt nach einer blutigen Angelegenheit.

Robert Kunkel: Oh ja, da war sehr viel Blut. Annika hat als menschliche Bande fungiert. Sie lag vor der Bande und ich bin in sie hineingekracht. Da war schon ordentlich Wumms dahinter. Das mit meinen Händen habe ich erst gar nicht gemerkt, es hat am Anfang auch nicht wehgetan. Ich habe mir nur Sorgen um Anni gemacht, weil ich mit maximaler Geschwindigkeit in sie reingekracht bin. Als ich meine Hände gesehen habe, habe ich gemerkt, dass beide Hände blutüberströmt waren und dann auch nicht mehr so aktiv hingeschaut. Noch Tage später waren auf dem Eis Blutspuren. Sogar unter Annikas Schlittschuh war noch Blut.

WELT: Wie ging es weiter?

Kunkel: Die Trainer und Betreuer sind direkt gekommen. Ich habe mich an die Bande gesetzt und die Hände hochgehalten, es hat unfassbar stark geblutet. Es war ja nicht nur der Schnitt, wie es etwa in der Küche mit einem Messer passiert, sondern auch der Aufprall mit voller Wucht in Annika. Deswegen wurden die Hände dann auch komplett blau.

Hocke: Nach zwölf Minuten kam dann der Krankenwagen. Robert hat erst gefragt, ob es überhaupt notwendig sei, ins Krankenhaus zu fahren. Aber er hat mehrere Mullbinden durchgeblutet. Dann haben die Rettungssanitäter sie abgenommen und da kam uns schon alles entgegen.

Kunkel: Ich habe dann in der Klinik gewartet, weil ich als Notfall nicht ganz oben auf der Prioritätenliste stand. Nach der ersten Untersuchung war klar, dass die rechte Hand genäht werden muss. Dafür wurde ein plastischer Chirurg hinzugerufen. Bei der linken Hand gab es nicht mehr viel zu nähen. Die Wunde war so groß, da hat viel Haut gefehlt. Man sieht halt den Knochen und diese pulsierende Wunde, das ist nicht so cool. Und die Haut lag auf dem Eis.

WELT: Immerhin gut gekühlt …

Hocke: Ja, unser Trainer hat die Haut aufgehoben und in eine Plastiktüte gesteckt, um sie dann auf dem Eis zu lagern. Man konnte sie aber nicht mehr zum Annähen benutzen, da zu viele Keime und Bakterien an ihr waren. Aber ich dachte auch, vielleicht ergibt es ja Sinn, dass die Haut noch ins Krankenhaus hinterhergefahren wird. Aber da zu dem Zeitpunkt draußen auch noch 30 Grad waren, war es keine gute Idee.

Kunkel: Die erste Diagnose der Rettungsstelle lautete, dass die Mittelfinger-Sehne der rechten Hand teils durchtrennt wurde. Die Sehne wurde genäht und die Schnittwunde mit zig Stichen ebenfalls. Links konnte wegen der fehlenden Haut nicht genäht werden. Die Wunde, die bis auf den Knochen ging, blieb zunächst unbehandelt. Wir haben dann unseren Teamarzt angerufen. Er meinte, dass es ziemlich heftig aussieht und das Zuwachsen des linken Fingers nicht zu unterschätzen sei. Wir sind dann nach Berlin gefahren in die Charité zu Professor Dr. Bernd Wohlfahrt, der immer für Athleten da ist. Zwei Tage später war ich dann in der Klinik für Hand-, Replantations- und Mikrochirurgie.

WELT: Was hat die Ärztin diagnostiziert?

Kunkel: Sie meinte, dass das an der linken Hand etwas Ernstes ist. In Italien wurden wir mit dem Gewissen entlassen, dass der Finger von allein zuwächst. Diese Illusion hat sie uns sehr schnell genommen. Die Wunde war einfach zu tief und groß, um von allein zuzuwachsen. Welches Verfahren für die Hauttransplantation genutzt werden soll, konnte sie ohne genauere Untersuchung, die unter Narkose durchgeführt werden sollte, nicht entscheiden. Die rechte Hand wurde später noch kontrolliert und die Naht nicht mehr geöffnet.

WELT: Das klingt nach heftigen Schmerzen.

Kunkel: Ja, das war nicht so cool. Die Untersuchung war ohne Betäubung, weil die Ärztin checken musste, welche Nerven intakt und welche beschädigt sind. Die Ärztin hat dann ein Cross-Finger-Verfahren in Betracht gezogen. Sie hätte Haut von der einen Hand genommen und zwei Finger miteinander vernäht. Nach sechs bis neun Wochen wären sie dann wieder getrennt worden. Das wäre wieder eine offene Wunde gewesen, die dann wieder hätte heilen müssen.

WELT: Wäre es das mit der Teilnahme an den Olympischen Spielen gewesen?

Hocke: Da wurde uns dann kurz schon ein bisschen anders, weil wir dann erst sehr viel später in die Saison hätten einsteigen können. Man hätte erst mal auch wieder fit werden müssen. All das, was du über den Sommer aufgebaut hast, wäre verloren gegangen. Olympia im Februar wäre zeitlich nicht das Problem gewesen, aber die interne Qualifikation endet schon im Dezember.

Kunkel: Als die Ärztin von dem Cross-Finger-Verfahren sprach, war das schon ein Downer. Aber zum Glück musste diese Operation dann doch nicht gemacht werden. Ein Spezialist im Unfallkrankenhaus hat mir Haut aus dem Oberarm entnommen und als Transplantat auf den linken Zeigefinger verpflanzt. Ich wollte keine Vollnarkose, die OP verlief so gut, dass ich nach einer Nacht das Krankenhaus schon wieder verlassen durfte. Ich hatte nur noch einmal richtige Schmerzen, weil der Verband an einer Stelle nicht gelockert war und mein Finger dann auf einmal fast genauso breit wie lang war. Dass der Verband so festsaß, habe ich nicht rechtzeitig bemerkt.

WELT: Wie lange war die von den Ärzten verordnete Pause?

Kunkel: Sie haben gesagt, wenn alles festgewachsen ist und die Haut vom Körper angenommen wird und die Wunde gleichmäßig geschlossen ist, kann an sich nichts mehr passieren. Bis dahin musste ich sehr aufpassen. Ich sollte so acht bis neun Wochen pausieren, aber nach vier Wochen konnten wir wieder die ersten Sprünge und Würfe mit Schutzschienen an der Hand machen.

Hocke: So konnten wir sogar trotz sehr knapper Vorbereitung wie geplant in die Saison starten und bei Nebelhorn Trophy die Olympia-Norm zum ersten Mal knacken.

Stephan Flohr ist Sportredakteur bei WELT. Er berichtet seit vielen Jahren über Fußball und zahlreiche andere Sportarten.

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