Die deutsche Autorin Verena Keßler hat diesen Sommer den hochgelobten Roman „Gym“ vorgelegt – eine kluge Satire auf unsere Fitnessobsession. Keßler trainiert selbst regelmäßig im Kraftraum – und hat beobachtet, was zwischen Hanteln und Spiegeln wirklich passiert.
Frage: Frau Keßler, wieso eigentlich ist das Fitnessstudio ein spannender Schauplatz für einen Roman?
Verena Keßler: Es ist ein abgeschlossener Raum, in dem immer wieder die gleichen Leute aufeinandertreffen, ohne sich miteinander auseinanderzusetzen. Man sieht sich, trainiert nebeneinander, aber bleibt sich fremd – das eignet sich perfekt für ein Kammerspiel. Außerdem fand ich es reizvoll, dass dieser Ort literarisch noch kaum erschlossen ist.
Frage: Weshalb ist das so?
Keßler: Vielleicht ist es ein kleines Risiko, an so einen Ort zu gehen und daraus trotzdem etwas Literarisches zu machen. Aber ich glaube, man kann das an jedem Ort hinbekommen – und das Gym steht ja auch für unsere Zeit.
Frage: Wie meinen Sie das?
Keßler: Allein schon deshalb, weil mehr Menschen denn je ins Gym gehen. Und man kann da einiges Symptomatisches für unsere Gesellschaft finden: Es ist ein Sport, der einen vereinzelt. Selbst in Gruppenkursen ist es kein Teamsport – man ist auf sich konzentriert, versucht, sich selbst voranzubringen.
Frage: Sie gingen für Ihre Recherche bis zu dreimal pro Woche ins Fitnessstudio. Haben Sie dabei Bekanntschaften geschlossen?
Keßler: Nein, ich kenne dort eigentlich nur den Trainer, der mir ab und zu einen neuen Plan für die Übungen macht. Und einige der anderen Mitarbeiter kenne ich mit Namen, aber es geht nicht über kurzen Small Talk am Tresen hinaus. Mit anderen Mitgliedern habe ich keinen persönlichen Kontakt.
Frage: Wieso nicht?
Keßler: Ich gehe da mit Kopfhörern rein, wie alle anderen. Das ist auch das Schöne – dass ich mich nicht auseinandersetzen muss mit anderen Leuten.
Frage: Ihr schönstes Erlebnis im Fitnessstudio?
Keßler: Kann ich gar nicht sagen, weil es immer so gleichförmig ist. Und das finde ich auch gut. Es ist total berechenbar, wie eine Stunde im Fitnessstudio ablaufen wird. Es gibt eigentlich keine außergewöhnlichen Vorkommnisse. Das Fitnessstudio ist ein sehr gelassener Ort. Meines zumindest.
Frage: Die Protagonistin Ihres Romans trainiert geradezu fanatisch. Ist das typisch für Frauen in Fitnesscentern?
Keßler: Ich denke, Leute gehen aus sehr unterschiedlichen Gründen ins Fitnessstudio. Manche für die Gesundheit, manche für eine äußerliche Veränderung. Und das kann man natürlich mit sehr großem Ehrgeiz machen. Egal, welches Geschlecht man hat.
Frage: Vor nicht allzu langer Zeit waren in Gyms praktisch nur Männer anzutreffen. Ist es ein Akt der Emanzipation, dass Frauen diese Muskelschmieden erobert haben?
Keßler: Ich würde das auf jeden Fall positiv bewerten. Vielleicht liegt es auch daran, dass sich etwas daran geändert hat, wie Frauen sich in solchen Räumen bewegen können. Natürlich gibt es da immer noch Belästigung oder Bevormundung, aber wahrscheinlich viel weniger als früher.
Frage: Haben Sie das selbst erlebt?
Keßler: Belästigungen nicht.
Frage: Bevormundungen?
Keßler: Ja, es gibt hin und wieder mal ungefragt einen Tipp.
Frage: Welche Art Tipp?
Keßler: Na ja, wie die angeblich korrekte Ausführung einer bestimmten Übung ist, beispielsweise.
Frage: Fitnesscenter sind mit Spiegeln geradezu zugepflastert – wie empfinden Sie das?
Keßler: Man prüft natürlich die eigene Haltung bei den Übungen, und dafür sind diese Spiegel wohl gedacht.
Frage: Die Spiegel werden nicht dazu verwendet, um voyeuristisch andere anzuschauen?
Keßler: Man wird im Fitnessstudio kaum beobachtet, weil alle sich selber beobachten. Ich glaube, es ist grundsätzlich so, dass in Fitnessstudios die Menschen auf sich selbst fixiert sind. Es gibt ja Leute, die nicht gern ins Fitnessstudio gehen wollen, weil sie das Gefühl haben, sie werden dort beobachtet. Aber das trifft meiner Meinung nach nicht zu.
Frage: Kein Anbandeln? Keine Anmache?
Keßler: Vor dem Spiegel genügt sich jeder selbst – aber am Tresen wird schon geflirtet. Das Gym ist kein asexueller Ort – so erlebt es ja auch die Protagonistin meines Romans. Es hängt wohl auch vom Fitnesscenter ab. Ist es ein großes, in dem vor allem junge Menschen trainieren? Oder ist es ein kleines, wie das, wo ich bin, wo die meisten Leute wirklich der Gesundheit wegen hingehen und einen Ehering am Finger tragen?
Frage: Die Heldin Ihres Romans spritzt sich sogar Steroide für ein größeres Muskelwachstum. Ist das realistisch?
Keßler: Es wurde mir erst bei meinen Recherchen klar, dass Steroide relativ üblich sind in Fitnessstudios – nicht nur bei Männern, auch bei Frauen.
Frage: Ist das die wahre Emanzipation? Dass sich Frauen Muskeln antrainieren wie Männer?
Keßler: Ich finde Bodybuilderinnen auch deshalb interessant, weil sie sich so weit vom weiblichen Schönheitsideal entfernen – und auf dieses Ideal nicht viel geben. So geht es auch meiner Protagonistin. Sie versucht damit, das Weibliche von sich abzuschütteln.
Frage: Eine Frau befreit sich erst dann vom Terror normativer Körperbilder, wenn sie aussieht wie ein Mann?
Keßler: Für die Figur in meinem Roman auf eine Art schon, ja. Aber ich würde nicht sagen, dass das der übliche Weg ist. Man kann auch ins Fitnessstudio gehen, um das Gegenteil zu machen, indem man versucht, die Weiblichkeit besonders zu betonen, sich einen besonders runden Hintern antrainiert, besonders schlanke Beine oder so.
Frage: Sind Sie auch der Selbstvermessung verfallen? Muskelumfänge, Hantelgewichte, Wiederholungen? Kennen Sie diese Zahlen?
Keßler: Ich finde schon, man bekommt seine eigenen Fortschritte ganz gut mit, wenn man sieht, wie viel Gewicht man nach drei Wochen mehr auflegen kann. Ich bin aber nicht wahnsinnig ehrgeizig im Fitnessstudio. Ich habe da keine krassen Ziele. Aber ich kenne trotzdem die Situation, wenn man nach jemandem auf ein Gerät geht und das Gewicht höher stellen muss – weil man eben kräftiger ist. Das ist schon eine kleine Befriedigung.
Frage: Der Chef Ihrer Hauptfigur bezeichnet sich als Feminist. Trifft man die wahren Feministen im Fitnesscenter – weil sie dabei helfen, dass die Frauen Muskelberge entwickeln?
Keßler: Das reicht wohl kaum.
Frage: Ist die Hauptfigur Ihres Romans eine Feministin?
Keßler: Also über meine Protagonistin würde ich nicht sagen, dass sie Feministin ist, sie ist eher Egoistin. Sie selbst will es ganz nach oben schaffen, ob andere Frauen auf der Strecke bleiben, ist ihr egal.
Frage: Haben Sie auch sympathische Menschen im Fitnessstudio angetroffen?
Keßler: Ich finde, die sind da alle total sympathisch und bodenständig, und deswegen gehe ich auch so gern hin. Und wenn ich mir den Trainingsplan machen lasse, dann kann ich sagen: Ich will jetzt die Übung für den Rücken, aber ich brauche nicht so starke Bauchmuskeln – und dann wird das darauf angepasst.
Frage: Die Fitnesskarriere Ihrer Hauptfigur allerdings nimmt kein gutes Ende. Führt Fitness in die Selbstzerstörung?
Keßler: Nein, nicht im Allgemeinen. Das ist die Geschichte dieser Figur. Ich wollte über diese Figur schreiben, die diese Eigenschaften hat – diesen starken Ehrgeiz und diesen unbedingten Wunsch nach Anerkennung. Und ich glaube, für so jemanden kann es so enden. Klar gibt es Fitnesssucht und Leute, die es einfach übertreiben. Aber ich glaube, dass man das in der Regel sehr gut auf eine gesunde Art und Weise machen kann.
Frage: Was haben Fitnesstreiben und Schreiben gemeinsam?
Keßler: Je öfter man es macht, desto besser wird man darin.
Das Interview führte Simon Graf für die Schweizer Zeitung „Tagesanzeiger“. Durch eine Kooperation im Rahmen der Leading European Newspapers (LENA) erscheint es auch in WELT.
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