Bernd Schuster war in den 1980er-Jahren die prägende Figur im Mittelfeld des FC Barcelona. Der 65-Jährige glaubt, dass Barça nach zehn Jahren wieder in der Champions League triumphieren kann.
Frage: Herr Schuster, als der FC Barcelona 2015 zum bisher letzten Mal die Champions League gewann, galt der Klub als das Nonplusultra des Weltfußballs. Wie erklären Sie sich, dass es jetzt schon zehn Jahre nicht mehr mit dem Titel geklappt hat?
Bernd Schuster: Die Mannschaft ist einer Gefahr erlegen, die immer nach großen Erfolgen aufkommt: In diesen Momenten fällt es oft besonders schwer, wieder 100 Prozent zu geben. Barça ist damals in ein Loch gefallen – insbesondere körperlich. Die Spieler wie Lionel Messi, Sergio Busquets oder Jordi Alba waren damals fußballerisch nach wie vor top. Für die eine oder andere Meisterschaft und den Pokal hat das auch noch gereicht. Aber auf europäischem Spitzenniveau wurden sie plötzlich teilweise von hungrigeren und fitteren Gegnern gnadenlos überrannt. Die Aufgabe des Trainers wäre es da gewesen, wieder die richtige Mentalität ins Team zu bringen. Aber nach dem Champions-League-Titel 2015 mit Luis Enrique hat das lange keiner mehr geschafft.
Frage: Und dann kam im Juli 2024 Hansi Flick.
Schuster: Ich erinnere mich noch: Als ich damals während der Sommer-Vorbereitung in Barcelona zu Besuch war, erzählten mir einige Leute bei Barça sofort: „Bernardo, endlich arbeiten die mal wieder richtig!“ In den Vorjahren wurden im Training oft nur Spielchen gemacht. Danach sind alle entspannt nach Hause gefahren und haben sich darauf verlassen, dass Messi und Luis Suárez mit ihrer Qualität im Angriff die Spiele gewinnen. Auf höchstem Niveau war das aber nicht genug. Hansi Flick hat Barça nach vielen Jahren wieder zum Schwitzen gebracht.
Frage: Warum hat ausgerechnet Flick das geschafft?
Schuster: Er hat dieses talentierte Team davon überzeugt, dass ihr Talent allein nicht reicht, um wieder an die Weltspitze zu kommen. Dabei hat es ihm sicher geholfen, dass sich jeder bei Barça noch an das Viertelfinale der Champions League 2020 erinnern konnte, als Flick sie mit Bayern 8:2 zerlegt hat. Dieses Spiel und das Sextuple, das seine Bayern damals gewonnen haben, waren der Beweis dafür, dass im modernen Fußball nicht mehr nur die technischen und taktischen, sondern auch die athletischen Qualitäten extrem wichtig sind. Das hat die Mannschaft sofort angenommen – und deswegen spielen Jungs wie Pedri oder Lamine unter Flick nicht nur gut, sie können jetzt auch körperlich mit der europäischen Elite mithalten und kämpfen richtig miteinander.
Frage: Sie sprechen das 18-jährige Wunderkind Lamine Yamal an. Flick sagte kürzlich beim SPORT BILD-Award, dass er einer der größten Spieler werden könnte, die die Welt je gesehen hat. Wie sehen Sie das?
Schuster: Ich werde Hansi Flick da nicht widersprechen, da er als Trainer den Jungen aus der täglichen Zusammenarbeit am allerbesten kennt. Dass er das Potenzial hat, um eines Tages ein ähnliches Niveau zu erreichen wie Messi, ist nicht zu übersehen. Lamine Yamal hat eine Gabe, die nur ganz wenige in die Wiege gelegt bekommen. Das, was er mit dem Ball macht, kannst du einfach nicht lernen. Dazu kommt, dass er auf dem Platz immer unglaublich klar und reif im Kopf wirkt. Er hat einfach keine Angst – vor nichts und niemandem. Er nimmt schon jetzt in der Champions League die Verantwortung und den Druck auf sich. Und er fürchtet sich auch vor den besten und härtesten Gegnern wie den Verteidigern von Inter Mailand nicht. Diese Souveränität wundert mich bei ihm am meisten. Es gibt aber auch bei solchen Top-Talenten immer noch ein großes Fragezeichen.
Frage: Und zwar?
Schuster: Ob er das Glück hat, verletzungsfrei zu bleiben. Vor nicht allzu langer Zeit wurde schon Ansu Fati als möglicher Messi-Nachfolger gehandelt. Auch der Junge hatte extrem außergewöhnliche Anlagen. Dann hat er sich aber verletzt, und jetzt ist er komplett weg von der ganz großen Bühne.
Frage: Zählt Flicks Barça mit einem Lamine Yamal in Topform zu den Favoriten auf den Gewinn der Champions League?
Schuster: Sie können zu den großen Kandidaten gehören. Das war schon in der vergangenen Saison zu sehen, in der sie mit etwas Glück im Halbfinale gegen Inter auch hätten weiterkommen können. Ich sehe bei Barça nur ein großes Problem.
Frage: Welches?
Schuster: Das Abwehrverhalten. Barça kassiert zu viele Gegentore. Dieser Angriff mit Yamal, Raphinha und Lewandowski ist eine Tormaschine, die auch mal große Rückstände aufholen kann. Aber ich bezweifle, dass das immer klappt – insbesondere gegen die besten Teams der Welt. Das Halbfinale der vergangenen Saison gegen Inter ist das perfekte Beispiel (3:3 und 3:4 n. V.; d. Red.). Da stand es im Rückspiel zur Halbzeit schon 0:2, und trotzdem hätten sie das fast aufgeholt. Wenn sie von Anfang an defensiv auch nur ein bisschen stabiler gewesen wären, hätten sie es ins Finale geschafft.
Frage: Was würden Sie konkret ändern?
Schuster: Flicks Idee vom extrem hohen Verteidigen und aggressiven Anlaufen ist super anzusehen und bringt viel offensive Wucht. Aber ich bin davon überzeugt, dass keine Mannschaft der Welt das in dieser Form über die volle Spielzeit aushält – schon gar nicht, wenn diese Mannschaft über 50 Spiele in einer Saison macht. Aus meiner Sicht braucht das Barça-Spiel wie auch schon zu Zeiten von Pep Guardiola und Luis Enrique hin und wieder Momente, in denen das Team zumindest ein wenig tiefer verteidigt und clever Passwege zustellt, anstatt immer mit Vollgas den Ball zu jagen. Mir ist in meinem Job als TV-Experte in Spanien nämlich etwas aufgefallen …
Frage: Was denn?
Schuster: Barças Spielweise, die vergangene Saison noch viele überrascht hat, wird von immer mehr Gegnern durchschaut – und zwar nicht nur von den Großen. Inzwischen wissen auch Teams aus dem Mittelfeld der spanischen Liga, dass sie Barça mit Bällen hinter die hohe Abwehr wehtun können, wenn die Abseitsfalle mal nicht greift. Das muss Flick in den Griff bekommen – gemeinsam mit seinen Führungsspielern, die das Spiel in den richtigen Momenten auch mal beruhigen. Deswegen hat es mich auch gewundert, dass Abwehrchef Iñigo Martínez an al-Nassr abgegeben wurde.
Frage: Marc-André ter Stegen wurde zwar nicht abgegeben, aber vom Stammkeeper zum Abgangskandidaten degradiert. Würden auch Sie ihm empfehlen, nach dem Comeback von seiner Rücken-OP zu wechseln?
Schuster: Erst mal muss ich sagen, dass es mir unglaublich wehtut, Marc-André in dieser Situation zu sehen. Zum einen wegen allem, was er als langjährige Nummer eins für den Klub geleistet hat. Und zum anderen, weil durch die Degradierung seine Position als DFB-Stammtorwart bei der WM 2026 in Gefahr ist, auf die er so lange warten musste. In meinen Augen hatte er sich den Stammplatz in den vergangenen Jahren verdient. Um die deutsche Nummer eins zu sein, muss er allerdings schnellstmöglich wieder spielen. Und da bekannt ist, wie gnadenlos Barça mit Spielern umgeht, die nicht mehr gebraucht werden, würde ich mir an seiner Stelle im Winter einen neuen Verein suchen. Flick hat klar auf Neuzugang Joan García und Wojciech Szczesny als Ersatzmann gesetzt und wird ter Stegen keine Chance mehr geben. Sein neuer Klub müsste in meinen Augen gar kein absoluter Top-Verein sein. Auch ein ambitionierter Bundesligist wäre gut, bei dem er regelmäßig im Einsatz ist. Denn das braucht er unbedingt – sonst kann ich mir gut vorstellen, dass der Bundestrainer 2026 Manuel Neuer für die WM zurück ins DFB-Tor holt.
Der Artikel wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) verfasst und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.
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