Natürlich haben sie ihn auf den Corcovado gebracht. Das Pflichtprogramm für Touristen, der Besuch der imposanten Jesus-Statue, galt auch für ihn. Die Szene in Rio de Janeiro hatte dabei etwas Symbolhaftes. Am Fuße des Cristo Redentor, des aus Stahlbeton und Speckstein gefertigten Abbilds vom Retter Jesus Christus, erschien der neue Messias, der die Fußballwelt in Brasilien von aller Mühsal befreien und dem selbst verschuldeten Leid erlösen soll. Der Name des neuen Heilands: Carlo Ancelotti, 66, gegenwärtig der erfolgreichste Trainer der Branche.
Entsprechend salbungsvoll fiel auch die offizielle Mitteilung aus, die der brasilianische Fußballverband CBF nach der Verpflichtung des Italieners formulierte. Der „größte Trainer der Geschichte“, so hieß es, übernehme die „größte Auswahlmannschaft der Welt“. In der gleichen Tonart ging es in der Verlautbarung weiter, die von einem „Statement an die Welt“ sprach und ein „glorreiches Kapitel“ prophezeite. Die „Seleçao“, wie die Eliteauswahl im Land des Rekordweltmeisters genannt wird, werde mit dem neuen Kommandanten wieder den „obersten Platz auf dem Podest zurückerobern“.
In diesen Superlativen drückt sich die Sehnsucht der Funktionäre und der Fans aus – der Traum von den guten alten Zeiten, die endlich wiederkommen mögen. Schließlich liegt der bislang letzte Titelgewinn des fünfmaligen Weltmeisters schon über zwei Jahrzehnte zurück. Zur Erinnerung: Patzer Kahn, Tor Ronaldo, die Entscheidung, 2:0 für Brasilien gegen Deutschland im Finale der WM 2002 in Japan und Südkorea.
Zuletzt gab es eher Notlösungen
Seither herrscht Tristesse bei der Diva des Weltfußballs. Ein rapider Absturz seit dem Rücktritt von Trainer Tite vor drei Jahren. Danach allenfalls Notlösungen mit Interimscoach Ramon Menezes, Fernando Diniz in Doppelfunktion für die Auswahl und den Verein Fluminense sowie zuletzt Dorival Junior. Vergeblich bemühte sich der umstrittene CBF-Boss Ednaldo Pereira, der inzwischen nach diversen Skandalen abgesetzt wurde, um Wunschkandidaten. Erst als Samir Xaud, Pereiras Nachfolger, in Amt und Würden kam, wurde der Deal mit dem Favoriten im Juni perfekt gemacht. Bem vindo, herzlich willkommen, Supermann Carlo!
Aber aller Anfang ist bekanntlich schwer, auch bei einem Erfolgstypen wie „Carletto“. „Ich erwarte keine Wunder“, prognostizierte Ancelotti vor seinem Debüt, wenige Tage nach der Unterschrift unter den bis 2026 datierten Vertrag, dotiert dem Vernehmen nach mit zehn Millionen und einer Prämie von fünf Millionen im Falle des WM-Erfolgs.
Der Fachmann sollte Recht behalten. Nach einem gleichermaßen torlosen wie schmucklosen Remis gegen Ecuador hagelte es bereits vernichtende Kritiken. Ein neuer Zyklus habe zwar begonnen, so der Tenor in der Presse, „jedoch ein Zyklus mit demselben Gesicht“. Besonders deftig fiel die Schelte bei der spanischen Zeitung „Marca“ für den ehemaligen Real-Trainer aus: „Brasilien nur ein Schatten seiner selbst.“
Ancelotti, von Natur aus ein Stoiker, blieb auch nach diesem Echo die Ruhe selbst. Es zeigte sich, was es ausmacht, wenn jemand eine nahezu beispiellose Reputation besitzt. „Er ist nun einmal ein Idol“, sagte Walter Casagrande, früher Nationalspieler und heute TV-Kommentator. Ancelotti werde sicherlich Erfolg haben: „Ich traue ihm den Aufbau einer wettbewerbsfähigen, wenn auch nicht sofort brillanten Mannschaft zu.“
Immerhin ein 1:0 gegen Paraguay
In der zweiten Partie folgten dezente Fortschritte. In São Paulo wurde die Startberechtigung für die WM erworben – nach beschwerlicher Qualifikation und Monaten des Zitterns: 1:0 gegen Paraguay nach einem Treffer von Vinicius Junior, am 10. Juni das passende Geschenk zum Geburtstag, als der Trainer 66 Jahre alt wurde. Job erledigt.
Entspannt konnte der prominente Gastarbeiter in die Sommerpause starten. Der Freund des süßen Nichtstuns, des „dolce farniente“ („Ich bin halt Italiener“), urlaubte in Europa, bevor er sich die Endphase der Klub-WM in den USA anschaute. Was er erlebte, gefiel ihm. Ein spürbarer Stimmungsumschwung, die guten Auftritte der vier Starter haben das Selbstwertgefühl der zwischenzeitlich an sich zweifelnden Edelkicker aus Brasilien gesteigert.
„Der Stolz ist zurück“, betonte beispielsweise Danilo, Kapitän der „Seleçao“. Eine gedemütigte Nation hat ein wenig ihrer Würde und Ehre zurückgewonnen, weil der Nachweis der Konkurrenzfähigkeit zumindest auf Klubebene erbracht worden ist. Prompt wurde das Ende des Weltschmerzes und der Melancholie ausgerufen – auch dank Ancelotti, der „technische Überlegenheit“ und „genetische Qualität“ als Stärken der Latino-Kicker hervorhob.
Der seit über drei Jahrzehnten im Trainergeschäft beschäftigte Routinier weiß, was die begeisterungsfähige Anhängerschar hören will, und ist clever genug, dies auch kundzutun. So gab er diese vollmundige Regierungserklärung ab: „Mein Brasilien wird wie Real Madrid spielen.“
Wo Ancelotti ist, ist Erfolg
Das Kunststück, mit der Ländermannschaft als erster Ausländer das Optimum zu erreichen und das allseits bewunderte Niveau der Madrilenen anzuvisieren, ist ihm zuzutrauen – wenn nicht ihm, wem sonst? Die Regel gilt: Wo Ancelotti ist, ist Erfolg. Schließlich ist er der einzige Trainer, der in allen fünf europäischen Topligen die Meisterschaft holte und zudem mit fünf Titeln – drei mit Real, zwei mit AC Mailand – Rekordhalter in der Champions League ist.
Mit seiner Art kommt der polyglotte Weltmann, der neben seiner Heimatsprache auch auf Spanisch, Englisch und Französisch kommunizieren kann, bestens im neuen Betätigungsfeld an. Torwart Alisson imponiert die Einfachheit, wenn der Trainer spricht: „Alles ist leicht zu verstehen.“ Locker und leicht, ohne erkennbare Anspannung, schreitet der Gentleman, dessen Sohn Davide einen Job beim Klub Botafogo in Rio angetreten hat, während des Trainings über den Platz. Die Kappe lässig verkehrt herum auf dem silbergrauen Haar, wache Augen und absolute Konzentration, der geliebte Kaugummi als Markenzeichen im Mund. Die personifizierte Gelassenheit – oder mit den Worten seines früheren Real-Spielers Casemiro: „Er strahlt einfach Frieden aus.“
Dazu kommen natürliche Autorität und immense Erfahrung, die den Primus unter den Fußballlehrern zur Idealbesetzung für die Kampagne im fußballverrückten Riesenreich machen. Sein Auftrag: Futebol, den Nationalsport, auf Vordermann bringen, die Renaissance des verehrten „Jogo bonito“.
Mit kleinen Schritten hat er angefangen, landete dabei mit drei Personalien durchaus Treffer: das Comeback seines Zöglings Casemiro als Stabilisator in der Defensive, die Berufung von Matheus Cunha (aktuell Manchester United, früher RB Leipzig und Hertha BSC) sowie die Entdeckung des Innenverteidigers Alexsandro Ribeiro aus Lille.
Zwei Spieler von Chelsea stehen hoch im Kurs
Seine Kandidatenliste umfasse 70 Namen weltweit, sagt Ancelotti. Er fahndet vor allem nach Offensivkräften, weil die Topstars schwächeln: Formkrise bei Vinícius Júnior, mangelhaftes Fitnesslevel bei Neymar, dem er aber genügend Zeit geben will, „die alte Leistungsstärke zu erreichen“. Derweil stehen seit der Klub-WM zwei Chelsea-Akteure hoch im Kurs: João Pedro, Doppeltorschütze im Endspiel, und der blutjunge Estêvão Willian, das jüngste Versprechen aus dem unerschöpflichen Talentereservoir.
„Wir haben besser verteidigt und müssen jetzt noch besser angreifen“, deutet Casemiro die aktuelle Herausforderung für den Ex-Champion an. Gelingen soll dies mit den erprobten Systemen: 4-3-3 oder 4-2-4, beides probate Grundordnungen, um den Ballzauberern in der Kreativzentrale alle Freiheiten zu eröffnen. Ein Plan, der im Kreis der Edeltechniker auf Zustimmung stößt.
Bisher gab es nur einen Moment, in dem Ancelotti seine Mannen nicht begeistern konnte. Als Begrüßungsritual hat sich etabliert, dass Neulinge bei der „Seleçao“ ein Lied singen müssen. Also stieg der Zugereiste mutig auf einen Stuhl und schmetterte einen Song seines Lieblingssängers Renato Zero. „I migliori anni della nostra vita“. Übersetzt: „Die besten Jahre unseres Lebens“.
Es sei ein grausiger Auftritt gewesen, berichten Augenzeugen, obwohl die Ballade in die Zeit passt. Immerhin: Alle Beteiligten wissen nun um immerhin eine Schwäche des neuen Chefs. Ancelotti kann viel – aber singen kann er nicht ...
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