Hertha BSC möchte in die Fußball-Bundesliga aufsteigen. Wie das gelingen soll, kann beim Saisonauftakt auf Schalke nicht beantwortet werden. Die Gäste aus der Hauptstadt sind mindestens 80 Minuten völlig chancenlos gegen eine seltsame Schalke-Elf.
Peter Remmert hatte dieses Spiel weggeatmet. 60 Minuten war der 20-Jährige gerannt, als gäbe es kein Morgen mehr. Er hatte das Spiel seines Lebens gemacht. Was gemessen daran, dass er erst zum dritten Mal für die Profis des FC Schalke 04 Schicht schob, keine Weltsensation ist. Und das bleibt auch nach dem 2:1 (2:0)-Sieg gegen die Hertha aus Berlin so. Aber Peter Remmert hatte sich in diesen 60 Minuten zum Auftakt der neuen Saison der 2. Fußball-Bundesliga in wahnsinnig viele Herzen gerannt.
Das Stadion erhob sich, als er ausgewechselt wurde. Und am lautesten applaudierte Miron Muslic. Der neue Trainer der Königsblauen hob die Hände weit über den Kopf und schlug seinen Pranken lautstark zusammen. Der Applaus galt Remmert. Und ein kleines bisschen ihm selbst. Denn er hatte den Stürmer überraschend aus dem Schacht gezogen. Auch weil Kapitän und Torjäger Kenan Karaman verletzt noch verhindert war.
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Auf Schalke brach an diesem Freitagabend mehrfach die Hölle los. Der Verein, der in der vergangenen Spielzeit um ein Haar ins Verderben gestürzt wäre, der ganz nah dran war, ein Drittligist zu werden, erhob sich. Mit einer lange nicht erlebten Kraft. Als die Schicht geschafft war, als die Spieler nach langer Zeit dominanter Vorstellung und ein paar bangen Minuten vor Schlusspfiff, auf den Rasen sank, tobte die Arena. Die Fans schrien den Spielern ihre Liebe zu und die antworteten mit Kraftgesten, mit geballten Fäusten, heißen Worten, mit jubelnden Armen. Ist an diesem Freitagabend etwas Großes geboren? Niemand weiß es. Aber Lust auf Zurückhaltung spürten sie auch nicht. Wie lange hatte es das nicht mehr gegeben. Schalke 04 flippte aus vor Glück.
Warum gibt Schalke 700.000 Euro für einen Trainer aus?
Fußball ist manchmal ein seltsamer Sport. Der ewig klamme Klub aus Gelsenkirchen hatte in diesem Sommer kaum etwas auf dem Transfermarkt zustande gebracht. Viele Spieler waren weg, aber nur drei Neue gekommen. War das ein Signal für den Aufbruch? Dazu kam Trainer Muslic. Aus dem Nichts. Muslic. Nie gehört! Plymouth Argyle Football Club. Auch nie gehört! Kennen Spiele-Nerds höchstens von Manager-Spielen. 700.000 Euro Ablöse. Verrückt! Wie konnte der Verein, der jeden Cent dreimal umdrehen muss und Trainer frisst wie ein Mähroboter den Sommerklee, nur so viel Geld hinlegen für einen, die man vielleicht schon bald so schnell vergisst, wie so viele andere vor ihm?
Muslic pfeift auf all das. Er geht seinen Weg. Und er reißt Schalke mit. Muslic hat eine Aura, die an Sandro Wagner erinnert. Groß, kräftig, bärtig und extrem positiv. Ein Duracell-Hüne, der mitrennt, anpeitscht und sich diebisch über jeden gewonnenen Zweikampf freut. Womöglich passt er doch viel besser nach Gelsenkirchen-Erle, als sich das ganz viele Menschen zuvor vorstellen konnten. Er hat Schalke, das ist die Bestandsaufnahme an diesem Freitagabend, mit seinem Mut zu Veränderungen und seiner offensiven Spielidee eine DNA verpasst, die sie hier lieben: rennen, grätschen, malochen.
Was für eine verrückte Startelf
Und einer, der das vollends verkörpert, ist Peter Remmert. Eine Name, der (noch) nicht nach Champions League klingt, eher nach Fließenleger, nach Maloche. Nach Schalke. Er stand in der Startelf, wie die drei Neuzugänge Nikola Katic, Heimkehrer und Neu-Kapitän Timo Becker und Soufiane El-Faouzi. Den Rest füllte Muslic aus dem eigenen Bestand auf. Ein Felipe Sanchez tauchte plötzlich auf, mit dem Vorgänger Kees van Wonderen so gar nichts anfangen konnte und wollte. Und diese Elf rannte wie verrückt auf die Herthaner zu, die das missmutig mitansahen. Als hätte man ihnen eine Schale Currywurst hingestellt und behauptet, sie sei hier in Gelsenkirchen erfunden worden. Dabei beansprucht das doch Herta Charlotte Heuwer, die West-Berlinerin, für sich.
Nach 16 Minuten flog Schalke das erste Mal auseinander. Remmert war steil geschickt worden, fiel im Strafraum. Elfmeter? Vielleicht. Eher nicht. Remmert aber beschäftigte sich höchstens eine Nanosekunde damit, setzte sich auf den Po und grätschte den Ball rüber zu Torjäger und Wechselkandidat (weil viel Geld versprechend) Moussa Sylla, der die freie Schussbahn nutzte, 1:0. Was für eine Szene. Hatte das Stadion noch etwas gebraucht, um vollends zu eskalieren - es war ihnen lecker serviert worden. Von Remmert, der später noch zweimal kurz davor stand, sich direkt ein Denkmal zu bauen. Zweimal aber ging der Ball knapp neben das Tor. Er tat Dinge, die man von einem ganz großen des Sports kennt. Von Thomas Müller. Er stakste herum, warf sich voll rein und machte mit seinem Körper wilde Aktionen, wie den Po-Assist. An diesem Abend war alles möglich.
"Er hat einen Pferdeschuss, einen super Körper"
Und trotzdem machte dieser Mann aus dem Nichts die ganze Mannschaft verrückt. "Er läuft 35 km/h, wiegt 90 Kilo, den kriegst du nicht so leicht vonne Beine. Er hat einen Pferdeschuss, einen super Körper. Er hat ein Riesen-Potenzial, weit zu kommen", schwärmte Kapitän Becker, der auch eine große Geschichte erzählt. Als die Schalker vor einigen Jahren aufstiegen, schickten sie ihn weg. Er ging nach Kiel. Spielzeit in der Bundesliga konnten sie ihm nicht versprechen. Becker entwickelte sich und kam nun zurück. Und lebt Schalke wie kaum ein anderer.
Schon in das Steigerlied vor dem Anpfiff hatten sie all ihre Kraft gelegt. Das erste Steigerlied in der Saison ist immer ein ganz besonderes. Wie einst die Bergleute auf gute Kohle hofften, hoffen sie auf Schalke auf guten Fußball. Doch so wie die Kohle verschwunden ist, hatte sich auch der gute Fußball hier längst vom Hof gemacht.
Sollten die Jahre des Schmerzes nun Linderung erfahren? Neuzugang Katic legte nach. Nach 23 Minuten köpfte er nach einer Ecke zum 2:0 ein. Wieder war Remmert beteiligt. Ein Freistoß hatte zur Ecke geführt. Remmert hatte den rausgeholt. Schalke kämpfte nicht nur, Schalke spielte auch richtig gut Fußball. Schalke versank im Glück. Niemand konnte fassen, was er oder sie sah. Herthas Coach Stefan Leitl holte seine Mannschaft schnell zusammen. Er wollte sich vergewissern, ob sie wach war. Warum waren sie nochmal gekommen? Wegen der architektonischen Alleinstellungsmerkmale der Stadt? Kleiner Spoiler: Sie waren gekommen, wegen Fußball.
"Wir haben gesehen, wie geil es ist, hier zu feiern"
Physisch gab es bei den Berlinern keine Symptome kollektiver Schläfrigkeit zu entdecken. Aber mental war Hertha der gigantischen Aufgabe in der ausverkauften Arena nicht gewachsen. Dabei hatte sich Abwehrchef Toni Leistner vorab weit aus dem Fenster gelehnt. Hertha sei Aufstiegsfavorit und wolle das beweisen. Das gelang in den ersten 80 Minuten nahezu gar nicht. Die Berliner liefen hinterher, hatte große Probleme, sich der Galligkeit des Gegners zu erwehren. Und wenn sie mal den Ball hatten, hatten sie keine Idee. Der alarmierte Sportdirektor Benjamin Weber sah einen"Warnschuss", Trainer Leitl war "sehr enttäuscht" von seiner Mannschaft.
Die Schalker Galligkeit verkörperte unter anderem der neue, kleine Schnickser El-Faouzi, der die Gäste ebenso entnervte wie der 20-jährige Vitalie Becker. Wann immer er eine Grätsche ansetzte, und das tat er mehrfach, pushte er danach das Publikum. Die Härte der Schalker mochte Hertha augenscheinlich nicht. Und dennoch hätte es womöglich noch zur Schadensbegrenzung gereicht. In der 89. Minute verkürzte Sebastian Grönning. Die Flanke kam der von der linken Seite. Für die war der Schalker Youngster Taylan Bulut (ebenfalls Verkaufskandidat, weil ebenfalls viel Geld versprechend) gerade eingewechselt worden und noch nicht ganz auf der Höhe. Er wurde überlaufen, plötzlich stand es 1:2. Schalke wackelte kurz. Es wurde wild.
Talent Mercant Aydin traf Mitspieler Katic mit dem Fuß im Gesicht. Der ging benommen zu Boden, kam nach Behandlung wieder, reckte seine Hand in eine Flanke und flog mit Gelb-Rot vom Platz. Schalke kämpfte, Hertha verzweifelte. Der Freistoß von Fabian Reese flog ins Nichts (97.). Muslic reckte die Faust. Der Sieg war nah, der Sieg war da. Der neue Trainer konnte danach seinen Stolz in keiner Sekunde verbergen. "Wir haben dem ganzen Stadion gezeigt, dass wir es ernst meinen." Von einem Ausrufezeichen in Richtung der Liga-Konkurrenz wollte er dagegen nichts wissen. "Es ging uns nie um ein Statement, es ging um Performance. Wir wollten den Fans ein neues Gesicht zeigen nach den schwachen Jahren."
Nach dem Schlusspfiff war Muslic der Erste, der vor die Kurve ging und feierte. Er schlug sich auf die Brust, sein Herz schlägt königsblau. "Ich habe das so gespürt", sagte er zu der bemerkenswerten Szene. "Ich habe das Bild im Vorfeld schon so gesehen. Danach bin ich ein paar Minuten nach drinnen gegangen, um mich zu sammeln." Die Fans zahlten sofort zurück. Verbrauchter Kredit nach den dunklen Jahren? Vergessen, verziehen. "Das war unglaublich. Ich wusste gar nicht, wohin mit meinen Emotionen", sagte Becker. Auch er malträtierte seine Brust: "Wir haben gesehen, wie geil es ist, hier zu feiern. Das will ich noch öfter erleben." Und Remmert? Der zitterte vor Glück. "Gänsehaut", sagte er. Und genoss. Er hatte Schalke gelebt, er hatte Schalke geatmet.
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