Ein Strand, ein Stock, drei Steine. Anna sitzt im Sand, die blonde Mähne hochgesteckt und eine polarisierende Sonnenbrille auf der sommerbesprossten Nase. "Das ist die Startbox." Mit einem angespülten Ast zieht sie die Linien. "Hier müssen wir solange kreuzen, bis die TTK, die Time to Kill, auf null läuft. Dann mit Vollspeed über die Startlinie zur ersten Wendemarke." Der Stock tippt auf einen Stein. Möglichst innen fahren! Wer als Erster an der Tonne ist, hat das Recht zur Halse. Schwungvoll lässt sie ein Holzstück durch den Sand um den Stein driften.
In Gedanken ist sie auf dem schnellsten Rennkatamaran, den der Segelsport zu bieten hat, dem F50. Mit 100 km/h in der Spitze fliegen diese drei Tonnen schweren Hightech-Geräte mit ihrem bis zu 29 Meter hohen Mast buchstäblich über das Wasser. Herkömmliche Segelboote schaffen nicht einmal die Hälfte. Das ist fast kein Segeln mehr, das ist vergleichbar mit der Formel 1. Genau das soll die erst wenige Jahre alte Liga SailGP auch sein: ein adrenalingetriebenes Hochgeschwindigkeits-Spektakel mit einer gewissen Chance auf brenzlige Situationen – alles dicht vor den Augen des Publikums. Ein solches Rennen auf dem Wasser gab es noch nie. In diesem Jahr ist der SailGP erstmals in Deutschland. Sassnitz auf Rügen verwandelt sich am 16. August in den Hotspot der internationalen Segler-Elite.

Wer hier mitfährt, ist handverlesen und hat nicht selten schon eine olympische Medaille in der Tasche. Anna Barth ist eine von ihnen, und sie ist die Jüngste. Sie war 18, kurz nach dem Abi, als Erik Heil anrief, der Steuermann und Chef des deutschen SailGP-Teams. "Ich kam grad vom Wasser, das Telefon klingelte, und Erik lud mich zu einem Trainingscamp ein – von SailGP war da noch keine Rede", erinnert sich die Hamburgerin. Man kannte sich bereits, der 35-jährige Heil ist mit seinen beiden olympischen Medaillen ein Star im deutschen Segelsport. Beim Probesegeln habe sie sich wohl ganz gut angestellt, blickt Barth zurück. Wenig später wurde sie im nächsten SailGP-Rennen direkt auf ein F50 gesetzt. In kälteres Wasser kann man kaum geworfen werden.
Ohne Eingewöhnung sofort auf das SailGP-Rennmonster
Anna Barth kommt aus einer Seglerfamilie. Schon Opa segelte, Papa hat ein eigenes Boot, und der zwei Jahre ältere Bruder durchschnitt mit der Pinne in der Hand die Elbe. Segeln aus Familientradition? So weit würde sie nicht gehen. "Das war keine ausgemachte Sache für mich. Ich habe auch viel getanzt, geturnt und Akrobatik gemacht." Schlussendlich sei sie über ihren Bruder in den Segelsport hineingewachsen. Er machte einen Segelkurs, als kleine Schwester kam sie immer häufiger mit – und blieb. Mit acht Jahren steuerte sie allein ihren Optimisten.
"Wenn es einen Wendepunkt gegeben hat, dann war es meine erste Regatta. Das hat mich absolut gefesselt. Nach den Rennen hatte ich mir sogar Notizen gemacht, um besser zu werden." Anna lächelt. Mit 18 wurde sie Weltmeisterin bei den U19-Junioren, 2023 und 2024 Junioren Weltmeisterin in der U21-Wertung. Ihr Sportgerät ist eine 49erFX-Jolle, eine 70 Kilo leichte Plattform mit ausladenden Wings, von denen sich die Segler und Seglerinnen fast waagerecht außenbords lehnen, um den Segeldruck auszugleichen.

Doch so ein F50 ist eine ganz andere Hausnummer. Der Katamaran wurde aus dem berühmten America's-Cup-AC50 entwickelt und auf Geschwindigkeit getrimmt. Das Geheimnis seines Tempos sind die sogenannten Hydrofoils – man könnte sie auch Unterwassertragflächen nennen. Wie die Flügel eines Flugzeugs beim Start heben sie ab einer bestimmten Geschwindigkeit den Rumpf aus dem Wasser. Der Widerstand sinkt schlagartig, und das Boot rast auf den Foils mit guten 100 km/h über die Wellen.
Vor ihrem ersten SailGP-Rennen hatte Barth noch nie auf einem F50 gestanden. Sie habe sich zwar in der Theorie intensiv mit dem Katamaran auseinandergesetzt, es sei dann aber alles ganz anders gewesen. "Allein die Größe des F50 – man konnte die unglaubliche Power im Boot förmlich spüren. Es war nur noch der Wahnsinn", beschreibt die Profiseglerin ihr erstes Mal. Als sie dann jedoch am Ruder stand, habe sie gemerkt: Das ist eben auch wie Segeln. Man fühle die Kraft im Boot, ahne, wo es hinwill und was zu tun ist.

So ein F50 wird mit sechs Personen gesegelt. Der Driver Erik Heil (35) steht am Ruder und ist zugleich der Teamchef, der Wing Trimmer Stuart Bithell (39) sorgt am Segel für optimalen Vortrieb, der Flight Controller James Wierzbowski steuert die Foils, die Grinder Jonathan Knottnerus-Meyer (27), Will Tiller (35) und Felix van den Hövel (36) kurbeln die Winsch zum Trimmen des Segels – und Anna Barth ist als Strategist das zweite Paar Augen des Drivers.
Ausguck und Berater: die Strategen im SailGP
Anfangs habe es diese Position nicht gegeben, so Barth. Heute sei sie unverzichtbar für den Erfolg. Wenn zwölf Boote auf kleinem Raum mit hoher Geschwindigkeit umeinanderherum fahren, jeder an Bord mit seiner Aufgabe ausgelastet ist und zudem die Rundumsicht durch das gewaltige Segel blockiert wird, dann brauche es an Bord einen Libero mit Überblick. Das ist ihr Job. "Die Kommunikation fordert einen. Ich muss das Feld im Blick haben, Situationen innerhalb von Sekunden erfassen und sie auf Englisch knapp und präzise dem Driver durchgeben", fasst Anna zusammen. Anfangs habe sie das unterschätzt, wohl auch, weil es diese Rolle bei anderen Regatten nicht gibt. Segeln im SailGP sei in nahezu jeder Hinsicht eben anders.
So funktioniert der schnellste Renn-Katamaran der Welt

Wer sich mit Hochleistungssegeln auskennt, dem dürfte der F50-Katamaran bekannt vorkommen. Er ist die Weiterentwicklung des AC50 aus der berühmten Millionärs-Regatta Americas Cup, die 2017 auf Einrumpfboote umschwenkte. Die Verwandtschaft ist mittlerweile nur noch äußerlich. Der F50 wurde gezielt für die Anforderungen der 2019 gegründeten Rennserie SailGP weiterentwickelt. Im Unterschied zu anderen Regatten verwenden hier alle Teams baugleiche Boote. Wie ein Tragflügelboot rast der F50 auf sogenannten Foils über das Wasser und erzielt wegen des geringen Wasserwiderstands Geschwindigkeiten von gut 100 km/h bei 40 km/h Wind. Damit ist das F50 das schnellste Segelboot überhaupt, das Höchstgeschwindigkeiten nicht nur auf geradem Kurs, sondern bei allen Manövern erreicht. Für die hohe See sind die F50 genauso wenig gedacht, wie ein Formel-1-Bolide für den Straßenverkehr. Schon kleinere Wellen können das hochgezüchtete Segelgerät von den Foils holen und das fragile Boot schwer beschädigen © Rolex
Seither tingelt sie als einzige Frau und mit Abstand Jüngste unter fünf Männern des deutschen Teams von einem SailGP-Rennen zum nächsten: Sydney, Auckland, Los Angeles, San Francisco, New York, Saint-Tropez, Abu Dhabi, Dubai, Cádiz. An jedem Ort ein kurzes Training, dann über zwei Tage die mit maximal 15 Minuten sehr kompakten Rennen. Übernachten in Hotels oder AirBnB, dazwischen Presseveranstaltungen und das Kamerateam für den YouTube- und Instagram-Kanal des SailGP im Schlepptau.
Ein Hauch von Steffi Graf
Das Rampenlicht behagt ihr nicht. Spricht sie über das Segeln, müsse man ihren Redefluss bremsen, wenn man selbst zu Wort kommen möchte, räumt sie lachend ein. Doch vor der Kamera oder auf Pressekonferenzen wirkt sie fast scheu. Ein wenig erinnert das an Steffi Graf. Die Grande Dame des Tennis war auf dem Platz ein mentales Kraftpaket, abseits davon wirkte sie leise und schüchtern. Auch Anna Barth kann man leicht unterschätzen, wenn sie mit sanfter Stimme, geradezu entwaffnend natürlichem Lächeln und offener Freundlichkeit auf einen zugeht.
Haben die beiden Jahre sie verändert? Anna Barth muss nicht lang überlegen: Auf jeden Fall. Das Team sei gigantisch, und die Jungs hätten es ihr unglaublich leicht gemacht. Aber natürlich habe sie als junge Frau eine Art "Küken-Rolle". Manchmal spüre sie das auch, aber da müsse man durch. "Es gibt mittlerweile wohl zwei Annas. Die eine, die mit ihren Freundinnen aus der Schule abhängt, und die im Nehmen und Ansagen deutlich härtere SailGP-Anna." Auch ihr Horizont, ihr Blick auf die Welt, sei heute viel weiter. Und sie sei viel professioneller geworden.

Frauen sind beim SailGP keine Seltenheit, sie sind Pflicht. Jedes Team muss laut Regularien mindestens eine Seglerin dabei haben. Ohne Quote wären wahrscheinlich nur zwei bis drei Frauen in den Reihen der SailGP-Teams, schätzt Anna Barth. Auch ihr Ticket in die Liga sei nicht nur ihrem Talent und ihren Erfolgen geschuldet. Ihre Vorgängerin stieg nach einem halben Jahr aus, und man suchte weiblichen Ersatz. Glück für Anna.
In zehn der insgesamt zwölf internationalen Teams besetzen Frauen die Position des Strategist. Eine gute Basis, um ein Gefühl für das Boot zu bekommen, weiß Anna Barth. Die Liga würde das Frauenthema ordentlich pushen. Langfristig würden die Strateginnen auch in andere Rollen wechseln, ist sie sich sicher. In zwei Teams ist das bereits der Fall. Für die USA steht eine Frau als Grinder an der Winde – eigentlich eine typische Männerposition, die sehr viel Kraft und Ausdauer erfordert. Auf dem brasilianischen Boot hat Martine Grael als Driver das Sagen.

Wenn Anna Barth ein großes Vorbild hat, dann ist es die 34-jährige Brasilianerin. Warum? Anna muss nach passenden Worten suchen. Sportlich, weil sie zweimal Gold in der Bootsklasse holte, in der auch sie segelt. Und Grael sei Steuerfrau in der SailGP, also sozusagen Chefin des Teams. Das sei herausragend.
Bei ein paar Gelegenheiten habe sie Martine Grael persönlich erlebt – die sei einfach "tough" und stehe völlig für ihr Ding ein. Der Druck auf sie sei immens. Sie ist die einzige Frau der Liga auf diesem Posten. Alle schauten darauf, wie sie performt. Man könne sich das von außen nicht vorstellen. Und Grael stecke das weg. Diese mentale Stärke bei Spitzensportlern bewundert Barth. Selbst unter großem Druck fokussiert zu bleiben – auf die Aufgabe, das Rennen, den Matchball.
Frauen hervorzuheben ist eine zweischneidige Sache

Als beim Sieg des brasilianischen Teams in New York die Moderatoren "the first female race winner" ins Mikro brüllten, habe sie das irgendwie geärgert. Das sei unnötig gewesen. Einerseits sei es gut, wenn Frauen in der Liga hervorgehoben werden, doch am Ende sollte die Leistung zählen, nicht das Geschlecht. "Dass ich eine Frau bin, spielt bei uns keine Rolle. Ich bin Teil des Teams – Punkt. Wir ziehen uns auch alle im selben Raum um", schildert Barth ihren Crew-Alltag.
"Es gibt evolutionäre Unterschiede zwischen Frauen und Männern, in den Persönlichkeiten und im Verhalten. Das kann man nicht wegdiskutieren", Anna Barth spricht zögernd und sucht vorsichtig nach passenden Worten. Sie lacht unsicher. Der lange Arm der Wokeness reicht offenbar selbst bis in das Bullerbü der Kieler Segler-Community.
Wenn man schon in den Vergleich gehe, fährt sie überzeugt fort, dann solle man doch die Vorteile seines Geschlechts für sich nutzen. Reine Frauenteams hätten einen enormen Zusammenhalt, eine unglaubliche Energie. Das sei genial. Da käme keine reine Männer-Mannschaft mit – jedenfalls nicht, solange alles glatt läuft. Ist die zwischenmenschliche Stimmung gestört, dann wirke sich das spürbar auf die Leistung der Frauencrews aus. Männer würden Animositäten während des Wettkampfes beiseiteschieben – und performen.

Auch Erik Heil könne das gut. Der ließe sich von nichts aus der Ruhe bringen – auch nicht vom mäßigen Abschneiden des deutschen Teams. Zwei Kollisionen zum Saisonstart wurden mit 12 Minuspunkten bestraft, damit liegen die Deutschen auf dem vorletzten Platz in der Gesamtwertung. Keine gute Ausgangslage, wenn man das deutsche Publikum und Sponsoren für eine neue Randsportart begeistern will. Ohne Steffi Graf und Boris Becker hätte es keinen deutschen Tennis-Boom gegeben, ohne Michael Schumacher keine Sonntage mit Millionen vor dem Fernseher. Selbst Randständiges wie Schwimmen und Basketball waren dank Franziska van Almsick und Dirk Nowitzki zeitweise massentauglich. Das deutsche Team hätte mit seinen starken, grundsympathischen Charakteren das Potenzial zum Publikumsliebling. Fehlt noch der Erfolg.

Die Trainingssituation frustriert Barth. Es gebe nur zwölf F50 für zwölf Teams. Ein Trainingsboot stehe nicht zur Verfügung. Lediglich einen Tag vor einem Rennen habe man die Möglichkeit, auf einem der gut fünf Millionen Euro teuren Boote zu üben. Da müsse die Liga nachbessern. "Es gibt nur sehr wenige Leute weltweit, die so ein F50 überhaupt segeln können. Das erst im Rennen zu lernen, sei extrem schwierig – bei manchen Positionen gar unmöglich." Und gefährlich.
Wenn ein F50 bei voller Fahrt von den Foils fällt und mit dem Bug ins Wasser sticht, gleicht das einer Vollbremsung auf der Autobahn. Die Beschleunigungskräfte können die angeleinte Crew herausschleudern, das Boot kann kentern, und im schlimmsten Fall kann selbst das stabilste Teil brechen: der Mast. Das ist im Mai dem australischen Team passiert. Jeder trägt eine Hightech-Rettungsweste samt kleiner Atemflasche, die vor dem Ertrinken bewahren soll, wenn der weit ausladende Katamaran nach einem "Capsizing" über einem liegt. Manchmal kommen die Boote nach einem solchen Unfall senkrecht im Wasser zum Stehen. Dann sitzt die Mannschaft zehn Meter über dem Wasser fest.
"Angst? Nein, eher tiefer Respekt"

Wenn ein Boot bei voller Fahr von den vorderen Foils fällt, wirkt das wie eine Vollbremsung. Die Kräfte können so enorm sein, dass das Boot beschädigt oder ein Crewmitglied verletzt wird © Simon Bruty for SailGP
Angst habe sie nicht – eher tiefen Respekt und ein Grundvertrauen in die Fähigkeiten des Teams. Mit winzigen Einmann-Segelbooten, den Switch, werde das Foilen geübt, und neben Krafttraining gebe es neuerdings auch Lifekinetik, um die Koordination zu verbessern. Anna Barth und Erik Heil sind große Fans dieses speziellen Trainings, das Geschicklichkeitsübungen mit Wahrnehmungsaufgaben kombiniert – eine Art Muskeltraining für das Gehirn. Selbst Trainerlegende Jürgen Klopp schwört darauf. "Wir müssen Entscheidungen oft blitzschnell treffen und dann als Team wie eine gut geölte Maschine umsetzen", erklärt die Strategin.
Am liebsten wäre ihr, die Teamzusammensetzung würde sich nicht ändern. Je besser man sich kenne, desto glatter laufe die Kommunikation. In Sassnitz wird sich zeigen, ob der SailGP beim deutschen Publikum ankommt. Die Planungen für die Saison 2026 laufen bereits. Ob es wieder der beliebte Ort auf Rügen sein wird, stehe noch nicht fest, heißt es von den Organisatoren. Falls nicht, könnte es auch das Baltikum sowie ein Hafen in Italien werden oder Kiel. Das wäre dann für Anna Barth ein Heimspiel.

Wegen der besseren Bedingungen zog sie von Hamburg nach Kiel. Der Kieler Yacht-Club (KYC) ist ihr Heimathafen – nur ein paar Hundert Meter entfernt vom Olympiazentrum Schilksee, ihrer zweiten Heimat. Hier liegt auch ihr 49erFX, den sie zusammen mit ihrer Partnerin Emma Kohlhoff in Wettkämpfen segelt. Und wenn es mit dem SailGP nicht weitergehen sollte? "Dann habe ich den Studienplatz Medizin", antwortet Anna Barth. Trotz des Segeltrainings und vieler Fehlstunden habe sie ein ganz gutes Abi hingelegt. Naturwissenschaften seien ihr Ding. Mit ihrer empathischen und zugleich analytischen Art fällt es leicht, sich eine Dr. Anna Barth im OP und auf Visite vorzustellen.
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