Damit hatten die Fans von Hibernian Edinburgh nicht gerechnet – selbst, wenn ihnen der historische Hintergrund des Freundschaftsspiels gegen Rot-Weiss Essen bewusst war. Vor 70 Jahren hatten sich der schottische Erstligist und der aktuelle deutsche Drittligist in einem der ersten Europapokalspiele überhaupt gegenübergestanden. Doch dass da gleich 2500 Anhänger vor zweieinhalb Wochen aus Essen zur Neuauflage anreisten und ein beeindruckendes Spektakel veranstalteten – das war mehr als ungewöhnlich.

„Rot-Weiss Essen international – wie einst Opa, RWE – mit dir durch Europa“ hieß es auf einem großen Spruchband, dass die Fans des Traditionsvereins aus dem Ruhrgebiet am Stadion an der Easter Road entrollten – nachdem sie vor und nach dem Spiel, das die Hibernians 3:2 gewannen, Edinburgh zur Partyzone umfunktioniert hatten: mit einem Fanmarsch und Gesängen. Noch Tage später schwärmten die Schotten von der Welle der Begeisterung, welche die Essener durch ihre altehrwürdige Stadt schwappen gelassen hatten.

Tradition zum Drittliga-Start

Am kommenden Freitag wird es nun ein Fußballfest in Essen geben, das ebenfalls nostalgische Gefühle hervorruft. Die neue Saison der 3. Liga wird eröffnet mit einer Partie, die auch das Zeug dazu hat, Herzen höher schlagen zu lassen: Die Essener, Deutscher Meister von 1955, empfangen den TSV 1860 München, Titelträger von 1966.

Magenta TV überträgt frei empfangbar live, das Stadion an der Hafenstraße ist ausverkauft. Es werden sich, sagt Essens Vorstandsvorsitzender Marc-Nicolai Pfeifer, „zwei Vereine gegenüberstehen, die viel Aufmerksamkeit erregen und eine bedeutende, bewegte Geschichte haben. Aus den Erfolgen der Vergangenheit leiten viele Fans ab, dass sie auch wieder eine große Zukunft haben werden.“

Pfeifer muss es wissen. Seit gut einem Jahr ist er bei RWE, das es erst vor vier Jahren aus der Viertklassigkeit wieder in die unterste eingleisige Profiliga geschafft hat, in der Verantwortung. Davor war er fast vier Jahre bei 1860, bis ihn die ständigen Querelen veranlasst haben, eine neue Herausforderung zu suchen. Wer würde sich besser anbieten als der 44-Jährige für ein Gespräch über die anhaltende Faszination von Traditionsklubs, ihre Nöte und Perspektiven?

„Professionalisierung auf allen Ebenen“

Wir sind im neuen Stadion an der Hafenstraße im Essener Norden verabredet, dem traditionellen Arbeiterbezirk der 600.000-Einwohner-Stadt. Bevor wir reden, will Pfeifer noch kurz bei der Mannschaft vorbeischauen. Die Spieler essen an diesem Dienstag unter der Haupttribüne der derzeit rund 20.000 Zuschauer fassenden, 13 Jahre alten Arena gemeinsam mit Mitarbeitern der Geschäftsstelle zu Mittag. Das ist eine der Neuerungen, die eingeführt worden sind: Das Wir-Gefühl soll gestärkt werden. Es ist eine von vielen Stellschrauben, an denen gedreht wird. „Professionalisierung auf allen Ebenen“ nennen Pfeifer und sein Vorstandskollege Alexander Rang ihren Maßnahmen-Katalog.

Einiges hat das Duo bereits auf den Weg gebracht – wenn auch vieles auf den ersten Blick kleinteilig erscheinen mag. Doch von einer Illusion, macht Pfeifer klar, sollten sich Vereine mit klangvollen Namen schnell verabschieden: dem Irrglauben, dass allein Tradition, der ungebrochene Zuspruch der Fans und die Euphorie dazu führt, automatisch die Stufen auf der Leiter zurück nach oben gehen zu können. Denn gerade die 3. Liga, in der es mit 1,3 Millionen Euro pro Verein nur wenig TV-Geld gibt, kann für wuchtige Vereine wie RWE und 1860 zur Kostenfalle werden.

Das mussten auch die Essener erfahren. Infolge des Aufstiegs 2021 nach 14 Jahren in der Regionalliga gab es eine große Party – auf die bald ein Kater folgte. Auf der Jahreshauptversammlung 2023 musste eine finanzielle Schieflage bekannt gegeben werden: Das Geschäftsjahr 2022 war mit einem Minus von rund 3,6 Millionen Euro abgeschlossen worden, die Folge auch von Fehleinschätzungen und Überforderungen mit den plötzlich gestiegenen Anforderungen. Es rumorte, der alte Vorstand ging.

Sparen, optimieren, priorisieren

Danach wurde aufgeräumt. „Das übergeordnete Ziel war die Weiterentwicklung der Erträge – zum anderen aber auch ein besseres Verhältnis von Umsatz zum Sportetat. Wir haben den Sachaufwand zugunsten der Aufwendungen für den Sport reduziert“, so Pfeifer. Große Posten wurden bewegt, aber auch kleinere optimiert – wie die Mietkosten für die Räume der Geschäftsstelle, die Mineralwasser-Bestellungen oder die Vereinbarungen mit den ÖPNV-Verbänden für das Kombiticket, mit denen die Fans kostenlos zu Heimspielen anreisen können. „Viele Entscheidungen hatten mit Mut und Priorisierung zu tun“, so Pfeifer.

Vor allem aber wurde mit der Stadt, dem Eigentümer des Stadions, in Nachverhandlungen eine erhebliche Reduktion der Stadionmiete erreicht. Der Verein muss statt 900.000 jährlich noch etwa 370.000 Euro plus einen variablen Anteil überweisen.

Die Einsparungen flossen in den Sportetat: Im Dezember kam mit Uwe Koschinat ein neuer Trainer und im Januar mit dem erfahrenen Mittelfeldspieler Klaus Gjasula ein Stabilisator. Das trug dazu bei, dass die Essener, die nach der Hinrunde mit 17 Punkten auf dem drittletzten Platz lagen, mit 39 Punkten die zweitbeste Rückrunde aller Teams spielten. Am Ende war RWE Tabellenachter – mit neun Zählern Rückstand auf den 3. Rang, der zur Relegation um den Aufstieg berechtigt. Dieser Abstand soll in der neuen Saison verkürzt werden. Dank der Konsolidierung gibt es Luft für Verstärkungen. Aktuell buhlen die Essener um Mittelstürmer Vincent Vermeij vom Zweitligisten Fortuna Düsseldorf. So weit oben konnte RWE lange nicht ins Regal greifen.

„Die Stadt Essen sieht uns auf dem richtigen Weg“

Ein Grund: Auch die langfristige Perspektive hat sich vor einigen Wochen noch einmal deutlich verbessert: Der Stadtrat hat grünes Licht für den Stadionausbau gegeben. Für rund 27 Millionen Euro, die größtenteils die Stadt trägt, sollen ab Juni 2026 die noch freien Ecken der Arena geschlossen und das Fassungsvermögen auf 26.800 erhöht werden. Auch bei diesem Projekt konnten in Nachverhandlungen die Konditionen für den Verein noch einmal signifikant verbessert werden.

„Das spiegelt das Vertrauen in die handelnden Personen im Verein wider. Die Stadt Essen sieht uns auf dem richtigen Weg“, sagt Pfeifer. Der kann nur lauten: RWE, von der Strahlkraft her immer noch weit mehr als ein lokales Phänomen, mittelfristig in die 2. Liga zu bringen: „Ich bin optimistisch, weil man sieht, dass die Basis hier noch einmal eine ganz andere ist und es Geschlossenheit in den Gremien gibt.“ 

Chaos und Träume bei 1860

Das war bei 1860 München anders. Vor allem auch, weil dort einige geglaubt haben, dass es einen leichten Weg zurück nach oben geben kann. 2011, als die Löwen kurz vor der Insolvenz standen, war Investor Hasan Ismaik eingestiegen. Die Folge: eine bis heute anhaltende Dauerfehde zwischen dem sprunghaften Geldgeber und den Präsidien des Vereins, den Mitgliedern und den organisierten Fans. Zwischen diese Fronten war auch Pfeifer geraten. Da half es ihm wenig, dass er das Sponsoringvolumen des Klubs verdreifacht hatte.

Die jüngste Entwicklung: Auf der Mitgliederversammlung am 5. Juli erklärte Robert Reisinger, der scheidende Löwen-Präsident und entschiedenste Gegner des jordanischen Investors, Ismaik habe „keine Relevanz“ mehr, da der seine Anteile verkaufen werde. Es gab teilweise Jubelstürme. Der Verein hatte dies zuvor sogar in einer Pressemitteilung verkündet. Der Haken: Zu diesem Zeitpunkt war der Deal mit einem neuen Investor noch nicht in trockenen Tüchern – kurz darauf platzte er dann.

Pfeifer glaubt dennoch an die Perspektive seines Ex-Klubs. Bei 1860, sagt er, sei „trotz der Widrigkeiten in vielen Bereichen sehr gute Arbeit“ geleistet worden – insbesondere durch „den hohen persönlichen Einsatz von Sport-Geschäftsführer Christian Werner“. Die Löwen-Mannschaft sei gut zusammengestellt und gehöre zu den „Top-Favoriten auf den Aufstieg“. Und solange die Fans strömen, lebt auch bei 1860 „der Traum von der Rückkehr in den großen Fußball weiter“. Genau wie bei RWE.

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