Erst Verlängerung, dann Elfmeterschießen und sogar die Verlängerung des Elfmeterschießens: Schweden und England liefern sich im EM-Viertelfinale einen langen Kampf. Ganze 14 Elfmeter braucht es, bis die Titelverteidigerinnen siegen. Nur die wenigsten Schützinnen treffen.

Die Nase geschwollen und mit Tamponaden ausgestopft, das blutverschmierte Trikot musste sie wechseln - Hannah Hampton ist sichtbar gezeichnet. Doch ihre Mitspielerinnen nehmen darauf keine Rücksicht, stürmen erst auf die Torhüterin Englands zu und werfen sich dann in wildem Getümmel übereinander. Dabei war Hampton zum Abschluss ganz umsonst in ihrem Tor auf ihre rechte Seite gesprungen. Weil Smilla Holmberg ihren Elfmeter für Schweden über das Tor in den Nachthimmel Zürichs schoss, hat England das Viertelfinale der Fußball-Europameisterschaft in der Schweiz gewonnen (2:3 i.E., 2:0, 2:2, 2:2). Im Elfmeterschießen. England.

"Wir haben immer dran geglaubt. Wir haben Elfmeter immer wieder im Training geübt, das hat sich ausgezahlt", so Englands Stürmerin Chloe Kelly. Sie selbst trifft souverän - trotz eines merkwürdigen Hüpfers zum Beginn ihres Anlaufs. Es sieht grotesk aus, Erinnerungen werden wach an den Italiener Simone Zaza, der bei der EM 2016 gegen Deutschland zum Elfmeter antrippelt wie ein Pferd im Dressurviereck. Doch Kelly ist bedeutend erfolgreicher als Zaza vor neun Jahren.

Es war, dieser Witz sei aus historischen Gründen erlaubt, ein zu England passendes Elfmeterschießen, das nach dem 2:2 nötig wurde, das auch in der Verlängerung Bestand hatte. Ein Elfmeterschießen, bei dem nicht einmal alle 22.397 Fans im ausverkauften Letzigrund sicher waren, ob sie ihren Augen trauen können. Es ist das schlechteste Elfmeterschießen in der Geschichte der Fußball-EM der Frauen. Bisheriger Negativrekord waren vier Fehlschüsse im 2017 zwischen Dänemark und Österreich. 3:0 hieß es damals am Ende. Diesmal treffen gar nur 5 von 14 Schützinnen.

Schwedens Torhüterin ist die tragische Antiheldin

Die letzte von ihnen ist schließlich - man weiß es da noch nicht - Englands Routinierin Lucy Bronze. Die Verteidigerin kann eigentlich kaum noch laufen, in der Situation, in der sich Hampton die blutige Nase holt, schnappt sich die 33-Jährige kurzerhand selbst eine Bandage und bindet sich den rechten Oberschenkel eng ab. Als sie einige Minuten später dann zum Elfmeterpunkt geht, ist das unwichtig. Fünf Schritte Anlauf - und sie hämmert den Ball mittig unter die Latte. Die gerade einmal 18-jährige Holmberg kann da nicht mithalten.

Vor dem Spektakel hatte es in der regulären Spielzeit immerhin vier Tore gegeben, zum 2:2 kam in der Verlängerung nichts Zählbares mehr hinzu. Und so müssen Hampton sowie Schwedens Torhüterin Jennifer Falk an die Torauslinie, während ihre Teams sich an der Mittellinie aufstellen. Das irre Erlebnis nimmt seinen Lauf.

Zum schlechtesten Elfmeterschießen aller Zeiten taugt es übrigens nicht. Statistikern zufolge ereignete sich dieses im Jahr 1998 in, ja, kein Witz, England. Das Spiel im Derby Community Cup der U10-Teams zwischen Mickleover Lightning Blue Sox und den Chellaston Boys endete 1:1 - nach dem Elfmeterschießen gewann die Blue Sox dann mit 2:1. Für ein einziges Tor wurden sage und schreibe 66 Elfmeter benötigt.

Parallelen zum DFB-Pokal 2015/16

Wer jetzt sagt, gut, bei Kindern kann das schonmal passieren, der mag vielleicht lieber diesen Vergleich: erste Runde DFB-Pokal 2015/16, VfR Aalen gegen 1. FC Nürnberg. Nachdem es sowohl nach der regulären Spielzeit als auch nach der Verlängerung 0:0 gestanden hatte, endete das Elfmeterschießen mit 1:2. Drei von zehn Elfmetern landeten im Tor, eine noch schlechtere Quote als jetzt bei der EM.

Das Duell bietet erstaunliche Parallelen. Denn die Torhüter können sich damals wie heute auszeichnen. Die Schwedin Falk pariert gleich vier Schüsse der Engländerinnen, Hampton hält zwei. Vor knapp zehn Jahren ist es Aalens Daniel Bernhardt, der drei Schüsse pariert, während Nürnbergs Thorsten Kirschbaum nicht entscheidend drankommt. Und doch siegen beide Male die Teams, deren Torhüter weniger Bälle abwehren.

Hampton ist die gefeierte Heldin und wird als Spielerin des Spiels ausgezeichnet, ihre Gegenüber Falk ist die tragische Antiheldin, die ihren Hauptjob - das Tore verhindern - exzellent erledigt, um dann im Nebenjob als Torjägerin kläglich zu versagen. Sie tritt an zum zunächst vermeintlich entscheidenden fünften Elfmeter ihres Teams. Trifft sie, zieht Schweden eine Runde weiter, trifft sie nicht, geht das Duell Frau gegen Frau weiter. Nun, es geht weiter. Falk schießt weit übers Tor, zuvor hatte schon ihre Kapitänin, Magdalena Eriksson vergeben und den Ball nur gegen den rechten unteren Pfosten gesetzt. Als dann schließlich auch Holmberg drüberschießt, können die Engländerinnen jubeln. Sie ziehen ins Halbfinale gegen Italien (Dienstag, 21 Uhr/ARD, DAZN und im ntv.de-Liveticker) ein.

"Es war stressig"

"Hannah war einfach unglaublich!", so Kelly, während Hampton selbst sagt: "Es war stressig. Ich habe einen gehalten und dann wurde der nächste gehalten, es ging einfach immer weiter." Ihr Fazit: "Jetzt bin ich einfach nur noch happy." Die englische Jubeltraube liegt noch auf ihr auf dem Rasen als die Stadionregie schnell "Sweet Caroline" einspielt. Jenen Song, der 2022 sein großes Revival entdeckte als die Engländerinnen bei der Heim-EM den Titel holten. So richtig Kraft zum gemeinsamen Jubeln hatte aber niemand mehr, viel zu aufreibend war das Spiel gewesen.

Hampton hatte sich die blutige Nase nicht einfach so geholt. Schweden beginnt die Partie stürmisch, schon in der 2. Minute trifft Kosovare Asllani zum 1:0. England ist zunächst völlig überfordert, in der 25. Minute erhöht Stina Blackstenius auf 2:0. Doch in der zweiten Halbzeit kommen die Engländerinnen verändert aus der Kabine, drängen mehr in Richtung Falks Tor. Bronze schafft in der 79. Minute den Anschlusstreffer, nur zwei Minuten später gelingt Michelle Agyemang tatsächlich der Ausgleich. Beide Vorlagen gehen aufs Konto der nur Minuten zuvor eingewechselten Kelly - Trainerin Sarina Wiegman beweist ihr Händchen. Spät, aber noch rechtzeitig, um die Titelverteidigung weiter in Angriff nehmen zu können. Weil die Nase von Hampton durchhält, weil der Oberschenkel von Bronze durchhält - und weil England im Elfmeterschießen die Nerven behält.

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