Kapitänin Giulia Gwinn ist bei der Fußball-EM nun zum Zuschauen verdammt. Weil sie nicht mehr dabei sein kann, werden die Rollen im Team neu verteilt. Sjoeke Nüsken rückt auf - und bekommt damit nun den Stellenwert, den sie von sich selbst erwartet.

Am Vormittag steht Giulia Gwinn noch auf dem Rasen. Die schwarze Sonnenbrille verdeckt die Augen, doch die große Schiene am linken Bein und die Krücken, auf die sich die 26-Jährige stützt, können nicht versteckt werden. Gwinn ist nicht mehr im Turnier, aber sie ist weiterhin Teil des Teams. Mittrainieren kann sie nach ihrer Innenbandverletzung aus dem EM-Auftaktspiel gegen Polen (2:0) nicht mehr, aber die Kapitänin steht am Rand des Trainingsplatzes und schaut zu, wie ihre Teamkolleginnen sich auf das Spiel gegen Dänemark (Dienstag, 18 Uhr/ARD und im ntv.de-Liveticker) vorbereiten.

Gwinn macht symbolisch deutlich, was das Team bereits betont hatte: Sie ist dabei. Ab dem Mittag nur noch gedanklich, denn Gwinn reiste am heutigen Sonntag nach München zurück, um sich in Behandlung zu geben. Zum dritten Gruppenspiel will sie zurück sein in Zürich und das Spiel gegen Schweden (12. Juli, 21 Uhr/ZDF und im ntv.de-Liveticker) vor Ort verfolgen.

"Natürlich sind wir noch erschüttert und traurig, was mit Giuli passiert ist", so Sarai Linder. "Es ist schön zu wissen, dass sie weiter bei uns ist." Gleichzeitig seien alle auch ein Stück weit erleichtert, dass die befürchtete Diagnose Kreuzbandriss sich nicht bewahrheitet hatte, sondern dass Gwinn nur für einige Wochen ausfällt, so Linda Dallmann.

Ihr Team will nun für Gwinn spielen - und muss sich natürlich neu sortieren. Nur noch 22 Spielerinnen hat Bundestrainer Christian Wück zur Verfügung, Rollen müssen neu verteilt werden. "Es ist kein Einzelsport, sondern Teamsport und das Turnier geht weiter", sagt Linda Dallmann. Sie hätten nun mehr zu tun, machen aber alles auch für Gwinn.

Nüsken rückt zur Vize-Kapitänin auf

Klar ist: Janina Minge ist die neue Kapitänin. Die Abwehrchefin vom VfL Wolfsburg rückt auf, nachdem Wück sie vor dem Turnier zur Vize-Kapitänin ernannt hatte, sie hatte die Binde schon übernommen, als Gwinn vom Platz musste. "Es ist nicht das erste Mal, dass sie eine Kapitänsrolle einnimmt, war in den U-Mannschaften auch schon öfter mal Kapitänin", so Linder. "Sie ist eine sehr, sehr ruhige. Aber wenn irgendwas mit der Mannschaft ist, steht sie vor dem Team und kommuniziert mit dem Trainerteam." Sie ist sicher: "Janina wird das sehr gut umsetzen können." Auch Dallmann hat volles Vertrauen: "Sie macht einen überragenden Job, sie lässt jede Energie auf dem Platz und geht über Grenzen hinaus. Sie gibt alles für das Team."

Sjoeke Nüsken ist neu an ihrer Seite. Sie rückt zur Vize-Kapitänin auf. Das hat Wück dem Team am Samstagabend mitgeteilt. "Das ist keine große Überraschung, sie ist eine Spielerin, die eine enorm große Entwicklung hinter sich gebracht hat. Auch durch den Wechsel zum Chelsea hat sie nochmal einen enormen Sprung gemacht", so Dallmann.

Für Nüsken ist es ein steiler Aufstieg. Vor der EM 2022 war sie noch aus dem Kader aussortiert worden. Ein harter Schlag für die junge Frau, die damals noch für Eintracht Frankfurt spielte. Das Finale im ausverkauften Wembley-Stadion gegen die Gastgeberinnen aus England begleitete sie dann als Fan vor Ort. Mit dabei war Nüsken dann ein Jahr später bei der WM in Australien. Aber auch hier lief es nicht so, wie sie es sich erträumt hatte. Nur 45 Minuten Spielzeit und das auch noch in der Innenverteidigung nach zahlreichen Ausfällen - nach drei Spielen war beim Debakel bekanntlich dann Schluss für Deutschland.

In London beim FC Chelsea gereift

Den Frust konnte sie mit viel Geschäftigkeit verarbeiten - nach der WM wechselte Nüsken zum FC Chelsea. Umzug nach London, neues Team, neue Aufgaben. "Es war einfach ein Bauchgefühl, das gesagt hat: Trau dich", sagte sie in der ARD-Doku "Shootingstars". Beim Mediaday des DFB in Herzogenaurach wenige Tage vor der Abreise nach Zürich zeigt sie die Unterschiede auf: "Der deutsche Fußball ist sehr organisiert, sehr taktisch geprägt, was natürlich auch super ist. Aber mir liegt das eher dieses wilde Hoch- und Runterlaufen, aggressiv in den Zweikämpfen sein. Das passt mehr zu meiner Spielweise."

Auf das anfängliche Hoch in London folgt aber in dieser Saison das nächste Tief: Die 24-Jährige verlor zwischenzeitig ihren Stammplatz, musste zum Teil von der Seite mitansehen, wie ihr Team das Triple aus Meisterschaft, FA-Cup und Ligapokal klarmachte. Wück aber vertraut auf die Mittelfeldspielerin, die bislang 47 Länderspiele absolviert hat. "Mein Anspruch ist es natürlich, dieses Vertrauen zurückzuzahlen und auf dem Rasen voranzugehen", sagte sie im Verbandsinterview auf dfb.de.

Wermutstropfen: Kopfball-Chance

Das stellt sie beim EM-Auftakt unter Beweis. Aufgrund des Fehlens von Sechser-Superstar Lena Oberdorf, die nach ihrem Kreuzbandriss nicht fit genug für das Turnier war, spielt Nüsken im DFB-Team eine defensivere Rolle als im Verein. Im Zusammenspiel mit Elisa Senß deckt die Wahl-Londonerin das defensive Mittelfeld ab, darf aber ihren Offensivdrang ausleben. "Ich fand sie im ersten Spiel sehr präsent, auch sehr, sehr wichtig für uns", urteilt Dallmann. Nur vor dem Tor hätte Nüsken eiskalt sein dürfen. In der 62. Minute hätte sie den Sieg für Deutschland bereits klarmachen können, nein müssen. Nach einer butterweichen Flanke von Klara Bühl setzte sie ihren Kopfball knapp neben den rechten Pfosten - was unmöglicher erschien, als ihn reinzuköpfen.

Dank der Treffer von Jule Brand und Lea Schüller startet die DFB-Elf bekanntlich dennoch mit einem Sieg ins Turnier. Die erste Voraussetzung für das, was Nüsken beim Mediaday verdeutlicht: "Also ich mache da kein Geheimnis drum. Wir spielen bei einer EM mit, natürlich wollen wir gewinnen." Bis zum Finale am 27. Juli ist es noch ein weiter Weg.

Die Verletzung von Gwinn aber erfüllt ihr ein persönliches Ziel früher als gedacht: "Ich möchte eine Führungspersönlichkeit auf dem Platz werden", sagt sie in "Shootingstars". "Ich hoffe, dass ich eine wichtige Rolle spielen werde." Nun ist sie Vize-Kapitänin.

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