Er kommt gerade vom Training, ist bester Laune und freut sich auf das Mittagessen. Doch bevor Christian Kukuk seinen Hunger stillt, nimmt sich der 35-Jährige ausgiebig Zeit für das Gespräch auf dem sonnenüberfluteten Turniergelände von Aachen. Zum ersten Mal geht er diese Woche beim CHIO, dem Weltfest des Pferdesports, als Olympiasieger auf den Parcours, nachdem er am 6. August vorigen Jahres in Paris bei den Sommerspielen als Springreiter mit seinem Wallach Checker 47 sensationell triumphiert hatte.

WELT AM SONNTAG: Herr Kukuk, wissen Sie noch, was Sie am Abend des 13. Juli 2014 gemacht haben?

Christian Kukuk: (überlegt) Keine Ahnung.

WAMS: Stichwort Fußball-WM, Finale Deutschland gegen Argentinien.

Kukuk: Oh ja, das Endspiel habe ich mir selbstverständlich angeschaut, in Borken bei der Familie Ehning, mit Johannes und seinem Bruder Marcus …

WAMS: … dem Mannschafts-Olympiasieger von 2000 und Weltmeister von 2010.

Kukuk: Richtig. Wir waren natürlich alle unheimlich happy über den deutschen Sieg und haben ihn auch dementsprechend gefeiert.

WAMS: Für Sie sicherlich noch besonders, weil sieben Spieler von Bayern München, Ihrem Lieblingsverein, dabei waren. Unter anderem Thomas Müller, zu dem Sie eine besondere Beziehung pflegen.

Kukuk: Bayern-Fan bin ich schon seit meiner Kindheit. Mein Vater ist Schalke-Fan und nahm mich oft mit zu den Spielen, wobei mich Schalke nie wirklich interessierte – ich fand die Bayern viel cooler. Sicherlich trug dazu auch die Antihaltung meines Vaters bei, der für die Bayern nichts übrighatte.

WAMS: Und wie kamen Sie mit Thomas Müller zusammen?

Kukuk: Auslöser dafür war Hermann Gerland (Bayerns damaliger Co-Trainer – d. R.), der ja auch einen Pferdehof besitzt. Als Thomas’ Frau Lisa mit dem Dressurreiten begann und sie ein Pferd hatten, bei dem sie glaubten, dass es mehr Talent zum Springen als für die Dressur besäße, fragte er Gerland, ob er nicht eine Idee hätte, was man mit dem Pferd machen könnte. Hermann kontaktierte daraufhin Ludger Beerbaum, auf dessen Hof in Riesenbeck ich seit über zehn Jahren angestellt bin. Ludger übernahm das Pferd und stellte es in meinen Stall. Etwas später kam Checker dazu, den Thomas und Madeleine Winter-Schulze dann kauften, nachdem ich ihn ein Jahr geritten hatte.

WAMS: Seither fiebert Müller mit Ihnen mit? So wie Sie bei seinen Spielen?

Kukuk: Bei großen Events haben wir Kontakt, so wie jetzt, wenn ich in Aachen mit Checker starte, oder er bei der Klub-Weltmeisterschaft in Amerika spielt. Oder wenn es mal meine Zeit erlaubt, dass ich ein Bayern-Spiel im Stadion sehen kann, hilft er mir auch. Ich finde es schade, dass sein Vertrag bei den Bayern nicht verlängert wurde. Thomas ist herausragend, sein Charakter, seine Art und Weise, wie er sich gibt, das Gesamtpaket Thomas Müller als Mensch ist einfach etwas Besonderes. Es wäre schön, wenn wir mal zusammen kicken würden.

WAMS: Sie spielten selbst bis zu Ihrem 13. Lebensjahr, träumten davon, Fußballprofi zu werden, ehe Sie sich schließlich dem Reitsport zuwandten.

Kukuk: Als Kind fand ich Reiten uncool, doch letztlich merkte ich dann, dass meine Leidenschaft dafür größer war als für den Fußball.

WAMS: Ihre Passion zahlte sich aus. 2024 gewannen Sie olympisches Gold. Wie lange haben Sie gebraucht, um zu realisieren, was für eine großartige Sache Ihnen gelungen war?

Kukuk: Wissen Sie, solch ein perfekter Tag, wie ich ihn am 6. August erlebt habe, ist schwer zu wiederholen. Deswegen darf man sich auch gar nicht zu sehr damit befassen und sich darin verlieren, das irgendwie verstehen zu wollen, oder sich fragen: wieso, weshalb, warum? Sondern man muss das einfach genießen, einfach mitnehmen. Das habe ich getan. Das Schöne ist, dass mir den Olympiasieg keiner mehr nehmen kann.

WAMS: Sehen Sie sich angesichts des Triumphs auch als besten Springreiter der Welt – so wie es einst Ihr Lehrmeister Ludger Beerbaum war?

Kukuk: Ludger war ein Ausnahmereiter. Das bist du, wenn du über Jahrzehnte an Olympischen Spielen teilnimmst und auch bei anderen großen Events Erfolge feierst – so wie Ludger. Davon bin ich noch einiges entfernt. Natürlich habe ich weiter große Ziele, doch der Erfolg hängt nun mal nicht nur von mir allein ab, sondern man braucht im entscheidenden Moment auch das passende Pferd.

WAMS: Was Sie mit Checker in Paris hatten.

Kukuk: Checker ist für besondere Momente geboren worden. Er besitzt ein grenzenloses Leistungsvermögen, außerdem einen unheimlichen Ehrgeiz, einen tollen Kampfgeist, ist sehr intelligent, lässt sich von nichts beeindrucken und ist immer klar mit sich selbst. Er ist einfach grandios.

WAMS: Und bildet mit Ihnen zusammen ein Dream-Team?

Kukuk: So können Sie es gern bezeichnen. Ich hoffe, wir können es noch lange bleiben. Nach Aachen stehen die Europameisterschaften an, im nächsten Jahr geht es hier um den Weltmeistertitel, und 2028 sind die Olympischen Spiele in Los Angeles. Es gibt viel zu gewinnen.

WAMS: Jetzt aber steht der Grand Prix von Aachen an. Erstmals starten Sie dort als Olympiasieger. Erhöht das den Druck?

Kukuk: Überhaupt nicht. Meine Erwartungshaltung ist die gleiche wie immer, und alles andere blende ich aus.

WAMS: Gilt das auch, wenn Sie mit Ihrem Pferd über den Wassergraben springen werden?

Kukuk: Sie spielen jetzt auf den Unfall von 2016 an.

WAMS: Damals kamen Sie und Ihr Pferd beim Großen Preis von Europa nach dem Sprung über den Wassergraben zu Fall. Während Ihr Pferd unverletzt blieb, zogen Sie sich einen dreifachen Schulterbruch zu, mussten monatelang pausieren.

Kukuk: Das habe ich lange verarbeitet und spielt heute keine Rolle mehr. Es war ein Drama, ja, weil es meine sportliche Zukunft infrage gestellt hat. Doch ich habe mich zurückgekämpft, nur das zählt.

WAMS: Wie kam es zu dem Sturz?

Kukuk: Nach dem Sprung über den Wassergraben hat das Pferd die Landung falsch eingeschätzt und seine Beine nicht ausgefahren. So etwas war mir davor und ist mir danach nie wieder passiert – Gott sei Dank. Vom Pferd gefallen bin ich aber schon einige Male.

WAMS: Im Jahr darauf mussten Sie den Tod Ihrer Mutter verkraften. Sie starb mit 56 Jahren an Krebs. Wie haben Sie diesen Verlust verwinden können?

Kukuk: Durch eine sehr starke, eingeschworene Familie. Damit meine ich nicht nur meine Schwester, meinen Vater, meine Oma, sondern auch die Geschwister meiner Mutter, Cousins und Cousinen. Unser Zusammenhalt, die vielen Gespräche untereinander und die viele Zeit, die wir miteinander verbracht haben, halfen, dass ich mein Leben relativ schnell wie gewohnt weiterführen konnte. Wohl wissend, dass ein ganz wichtiger Bestandteil fehlt. Doch man muss lernen, damit zu leben. Wenn ich nur an die Besuche im Trauerwald denke – das sind immer auch irgendwo schöne Momente, die schöne Erinnerungen wecken. Ich versuche, das Schöne am Leben meiner Mutter leben zu lassen. Grundsätzlich versuche ich immer, Unliebsames so nüchtern wie nur irgend möglich zu nehmen.

WAMS: Was sich leichter sagen als leben lässt, oder?

Kukuk: Das gelingt nicht immer, denn es gibt nun einmal solche und solche Tage. Aber ich habe gelernt, positiver zu denken. Für meine Mutter war das Glas nie halb leer, sondern immer halb voll. Ich habe dieses Lebensmotto von ihr übernommen und versuche, in jedem Missgeschick auch etwas Gutes zu sehen. Dass ich in Paris gewonnen habe, war dann das perfekte Drehbuch. In Paris waren wir oft zusammen, sie hat die Stadt geliebt, dort besuchte sie auch das letzte große Turnier vor ihrem Tod.

WAMS: Kurz vor den Sommerspielen 2024 tauchte ein vier Jahre altes Video auf, das zeigte, wie die dreimalige Dressur-Olympiasiegerin Charlotte Dujardin ein Pferd schlug. Sie wurde für ein Jahr gesperrt, darf Ende dieses Monats wieder starten. Für Tierschützer war das ein willkommener Anlass, lautstark die Abschaffung des Reitsports zu fordern.

Kukuk: Leider gibt es schwarze Schafe, die unseren Sport in Misskredit ziehen. Das muss auch hart geahndet werden. Und wenn die Strafe verbüßt ist, muss es auch weitergehen, dann gilt es, wieder nach vorn zu schauen. Und noch etwas möchte ich sagen: Ich glaube, dass der Großteil der Kritiker nicht weiß und versteht, was wir für unsere Pferde tun. Dass entschieden mehr dazu gehört, als bei einem Turnier in zwei Minuten unsere Leistung zu bringen. Ich denke, die meisten Menschen könnte man für den Reitsport gewinnen, wenn man ihnen tief greifend erklärt und zeigt, wie ein Alltag bei uns abläuft und was alles dafür getan wird, damit sich das Pferd wohl und komfortabel fühlt. Ihnen geht es ja nicht anders als uns Menschen. Nur wenn wir uns gut fühlen, sind wir in der Lage, unsere Leistung auf höchstem Niveau abzurufen. Wer behauptet, dass es den Pferden auf diesem Niveau schlecht geht, hat keine Ahnung von dem, was er sagt. Ich liebe die Pferde und lebe den Sport. Wenn ich nicht auf Turnieren unterwegs bin, stehe ich täglich sechs bis acht Stunden im Stall und bin mental mit dem, was ich tue, beschäftigt.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke