Doppelte Tragik für Alexander Zverev: Der deutsche Tennis-Star offenbart mentale Probleme nach seinem Aus in der ersten Runde von Wimbledon. Hinzu kommt, dass er verloren ist zwischen zwei Super-Generationen - und deshalb seinen großen Traum vielleicht nie leben kann.
Am Ende reicht es nur noch für einen Bauchklatscher der Freude. Völlig erschöpft und überglücklich sinkt aber nicht Alexander Zverev auf den Tennisrasen, es ist sein Gegner Arthur Rinderknech. Die Nummer 72 der Welt. Der Franzose hätte für den deutschen Top-Spieler, den Drittbesten auf dem Planeten, eigentlich keine hohe Hürde darstellen dürfen. Doch wie so oft stolpert Zverev bei einem großen Turnier. Wieder ist es nichts mit dem ersten Grand-Slam-Titel, den der Hamburger sich so sehr wünscht und zutraut. Stattdessen setzt es ausgerechnet in Wimbledon ein blamables Aus in der ersten Runde.
Irgendetwas fehlt Alexander Zverev, der mit 6:7 (3:7), 7:6 (10:8), 3:6, 7:6 (7:5), 4:6 verliert. Irgendetwas läuft nicht rund. Immer wieder, vor allem in großen Momenten. Vielleicht kann er sein Spiel nicht auf die Stärken des jeweiligen Gegners anpassen, nicht zu dem Maß, wie das die großen Grand-Slam-Champions können und konnten. Vielleicht kann er den Superstar-Gegnern sein Spiel nicht dominant genug aufdrücken. Vielleicht spielt - durchaus verständlich - in den wichtigsten Momenten der Kopf verrückt. Die Dämonen übernehmen und ein fast schon gewonnenes Match schwindet dahin.
Erwartungen und ungesunden Druck gibt es in allen Profisportbereichen. Aber selten ist eine Athletin oder ein Athlet so allein und so absolut auf sich selbst gestellt, umgeben von tausenden frenetischen Fans, mit Millionen Zuschauern am Bildschirm, wie im Tennis, wo man seinem Gegenüber keinerlei Schwäche zeigen darf. Im Mannschaftssport werden Last, Frust und Ruhm geteilt. Im Tennis ist die Einsamkeit absolut. Und doch kann man sich nirgends verstecken.
Zverev: "Schwierig, Freude zu finden"
Zu den Geistern, die Psyche und Körper zermartern, spricht Zverev nach der Wimbledon-Pleite erstmals erstaunlich offen, wofür ihm Respekt gebührt. "Ich fühle mich generell gesprochen ziemlich alleine in meinem Leben, was kein schönes Gefühl ist", sagt der 28-Jährige nach der Partie. "Ich versuche, Wege zu finden, aus diesem Loch herauszukommen." Nicht nur auf dem Tennisplatz fühle er diese Leere, gibt Zverev zu, "es ist ein grundsätzliches Gefühl in meinem Leben. Ich habe mich noch nie so gefühlt", flüstert er fast. "Es ist schwierig für mich, außerhalb des Tennisplatzes Freude zu finden."
Mentale Leere ist kein neues Phänomen im Tennis. "An den meisten Tagen war ich traurig, ich hatte die Freude am Tennisspielen verloren", sagte selbst Rafael Nadal zum Ende seiner Karriere. Tennis-Legende Andre Agassi schreibt in seiner Biografie "Open" darüber, wie er den Sport gehasst hat. Auch, weil es "so verdammt einsam" war, eine sich wiederholende Plackerei aus Reisen und Training, unterbrochen von unruhigen Kampfphasen, wo Angst und Depressionen herrschen.
Auch für Zverev ist der Traum von Tennisstar anscheinend zum Kampf gegen Dämonen geworden, zum Albtraum der Einsamkeit. Dem Albtraum der großen Leere. Zu seiner spektakulärsten Szene gegen Rinderknech, abgesehen von der Flugrolle im Stil von Boris Becker, seinem zweiten Aufschlag mit 219 Stundenkilometern im vierten Satz beim Stand von 5:5 sagt der Hamburger später: "Es ist die fehlende Motivation in wichtigen Momenten. Es ist dieses: Bei 5 beide im Tiebreak. Okay, ich serviere jetzt mit 136 [Meilen pro Stunde; d.Red.]. Wenn ich das mache, ist es super. Wenn ich einen Doppelfehler mache, ist auch okay. Das habe ich noch nie gefühlt."
Die verlorene Generation um Zverev
Zverev sagt in der Pressekonferenz, dass er zum ersten Mal in seinem Leben möglicherweise eine Therapie brauche. Allein diese Erkenntnis ist ein Schritt der Stärke. Wenn er an seinen mentalen Problemen arbeitet, wenn er den nagenden Dämonen die Stirn bietet und wenn er den Kampf nicht verschweigt und dadurch mit ein paar Tabus über psychische (Un)Gesundheit aufräumt, kann er stolz auf sich sein. Ganz unabhängig von den Resultaten auf dem Tennisplatz.
Dort aber könnten äußerst besondere, ja fast schon tragische Umstände dazu beigetragen haben, dass Zverev zumindest auf dem Court nie die ganz große Freude gefunden hat. Zum Anfang seiner Karriere wird er von der Generation der Großen Drei - Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic - zermürbt und von seinem Traum vom Major-Titel abgehalten.
Doch kaum mussten Federer und Nadal altersbedingt ihre Karrieren beenden und Djokovic seine Dominatoren-Rolle aufgeben, kommt einfach die nächste Generation des Wahnsinns um die Ecke. Die Generation der 2000er, der von Carlos Alcaraz und Jannik Sinner, die im Alter von Anfang 20 die 1990er um Zverev im Eilsprint einfach so überholt haben. Eigentlich sollten Zverev, Daniil Medwedew oder etwa Stefanos Tsitsipas (fliegen beide auch überraschend in der ersten Runde von Wimbledon raus) irgendwann die Tennis-Macht an sich reißen, das ist immer wieder zu hören. Nun bleiben sie als Sandwich zurück. Als verlorene Generation.
Erst "Big Three", dann Alcaraz und Sinner
Alexander Zverev und Co. zerschellen immer wieder an den Generationen des Wahnsinns. Ihre Geburtsjahre werden zur Tragödie. Denn die Spieler, die in den 1990er-Jahren geboren sind, haben im Grand-Slam-Himmel nichts zu melden im Vergleich zu den 1980er- und 2000er-Spielern. Infolge der epochalen Dominanz von Federer, Nadal und Djokovic haben männliche Spieler mit Baujahr 1980 bis 1989 insgesamt 80 Grand-Slam-Titel gewonnen. Allein 66 heimsten die Big Three ein. Die 2000er haben in Person von Alcaraz (fünf) und Sinner (drei) bereits achtmal triumphiert.
Eine bittere Statistik im Überblick: Spieler, die in den 1950er-Jahren geboren wurden, gewannen in den 1970er-Jahren 22 Grand Slams. Den Spielern aus den 1960er-Jahren gelang das in den 1980er-Jahren 23-mal. Denen aus den 1970ern in den 1990ern und denen aus den 1980ern in den 2000er-Jahren jeweils 30 Grand-Slam-Titel. Aber männliche Profis, die in den 1990er-Jahren geboren wurden, gewannen in den 2010er-Jahren keinen einzigen Grand-Slam-Titel.
Klägliche zwei Major-Triumphe (Dominic Thiem 2020 und Medwedew 2021 bei den US Open) hat die verlorene Generation um Zverev eingefahren. Vielleicht war die Spur der Verwüstung, die die drei Dominatoren hinterlassen haben, so kolossal, dass sie erdrückend und bedrohlich immer noch über die 1990er-Spielern schwebt. In einer Zeit, in der Zverev und Co. mit Mitte bis Ende 20 eigentlich in der Blütezeit ihrer Karrieren stehen sollten. So viele unerfüllte Erwartungen und Wünsche: Ob auch daher die Niedergeschlagenheit und Erschöpfung des Hamburgers stammen?
Zverev kämpft jetzt für sein größtes Ziel
Dabei ist Zverev gleich mehrmals ganz nah dran am großen Titel. Kann die Trophäe schon in den Händen spüren. Doch am Ende bricht er im US-Open-Finale gegen Thiem nach Zwei-Satzführung dramatisch ein. Es ist das bislang einzige Grand-Slam-Endspiel zwischen zwei 1990er-Spielern. Auch gegen Alcaraz im French-Open-Finale 2024 verliert er nach 2:1-Satzführung. Das glatt in drei Sätzen gegen Sinner verpatzte Endspiel der Australian Open in diesem Jahr zeigt dann bereits eine Kluft zwischen Zverev und den beiden Jungstars an der Weltspitze.
"Ich wünschte, ich hätte in den ersten zehn Jahren meiner Karriere nicht gegen die drei besten Spieler aller Zeiten spielen müssen, denn dann hätte ich vielleicht schon ein oder zwei Grand Slams gewonnen", sagt Zverev im Mai vor den French Open. Angesichts des aktuellen Triumphzugs von Alcaraz und Sinner und dem eigenen krachenden Erstrundenaus in Wimbledon scheint der Deutsche so weit weg wie nie von seinem großen Traum. Vielleicht für immer.
Doch nun stellt sich Alexander Zverev dem Kampf gegen die Dämonen im Kopf und gegen das Gefühl des Alleinseins. Ein Sieg wäre wichtiger und beeindruckender als jeder Grand-Slam-Titel.
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