Seine Stimme, dieses unverkennbare dunkle Timbre in Verbindung mit dem typischen Hamburger Schnack, verleiht der Zeitreise noch einmal einen Extra-Schuss Authentizität. „Wir hatten als Spieler in Eimsbüttel eine feste Kneipe. Und den Wirt haben wir reich gemacht. Wenn wir ihn nach Auswärtsspielen von unterwegs anriefen, dass wir in 90 Minuten da sind, hat er den Mädels immer wieder eingeschenkt. Wir waren ja 1977 die ersten Alkoholiker, die mit St. Pauli in die Bundesliga aufstiegen: Walter Frosch, Gino Ferrin und Rolf Höfert, Dieter Schiller, Manfred Mannebach – all die Zugmagneten”, sagt Dietmar Demuth und zieht an seiner Zigarette.
Die späten Siebziger und frühen Achtziger waren seine Jahre und lieferten Geschichten, mit denen der damalige Abwehrspieler und spätere Cheftrainer des Hamburger Stadtteilklubs heutzutage problemlos ein Abendprogramm mit Anekdoten für Fußballromantiker füllen könnte. Vor allem aber verdeutlichen sie, wie extrem sich der Profifußball binnen 40 Jahren verändert hat.
„Wir haben montags gesoffen, dienstags gesoffen, mittwochs gesoffen, donnerstags gesoffen“, sagt Demuth und spielt ein typisches Kabinengespräch von damals nach: „Mittagessen. Wohin? Schaschlik-Schorsch! Yo, okay. Ne schöne Currywurst, das war unser Mittag. Walter hat sich nach dem Training gar nicht umgezogen, nur Fußballschuhe aus, Pantoffeln an, und dann sind wir los: Scharf? Yo. Mit Brot? Yo. So ging das. Und dann sind wir noch aufn Kiez, haben ein bisschen Billard gespielt und abends dann wieder zusammengesessen. Wir treffen uns immer noch regelmäßig, aber leider sind einige Gute schon verstorben.“
Oldschool in Neuruppin
Er selbst aber ist immer noch da, wo der Ball rollt – oder besser: wieder. Der 70-Jährige übernahm am 1. Januar nach dreieinhalb Jahren Pause beim sechstklassigen MSV Neuruppin noch einmal ein Traineramt. „Ich habe Spaß daran, auf dem Fußballplatz zu stehen und etwas zu vermitteln. Ich bin der Meinung, dass ich es noch draufhabe. Weshalb sollte ich aufhören? Nur wegen des Alters?“, fragt er, doch der wohl entscheidende Satz fällt erst später im Gespräch: „Ich wollte es mir selber, aber auch allen Kritikern noch mal beweisen.“
Als Spieler und Trainer arbeitete Demuth in 51 Jahren für 16 verschiedene Klubs. Eigentlich sei es überall schön gewesen, sagt er, doch seine letzte Station beim Berliner Fünftligaklub CFC Hertha 06 entpuppte sich sportlich wie menschlich als Missverständnis. „Ja, ich war auch ein bisschen gekränkt. So wollte ich mich nicht vom Fußball verabschieden“, blickt er zurück. Statt wie geplant mit 70 Jahren irgendwo das Rentnerdasein zu genießen – er hat vier Kinder, seine zweite Ehefrau ist 26 Jahre jünger als er – hatte Demuth noch eine Rechnung offen. Und dürfte sie nun schon nach weniger als fünf Monaten wieder beglichen haben.
Er rettete den MSV vor dem drohenden Abstieg aus der Brandenburgliga, holte aus 13 Spielen neun Siege und ein Unentschieden. Lediglich einen Zähler betrug der Vorsprung auf den Tabellenvorletzten im Winter. Nun, zwei Spieltage vor Schluss, sind es 21. Satte 28 Punkte für den Klassenerhalt und sein eigenes Ego: Er kann es tatsächlich noch. „Man kann mir sagen, ich sei Oldschool. Was bezüglich des Trainings aber Schwachsinn ist. Ich habe mein Training ja auch angepasst und lasse nicht mehr zehn 400-Meter-Läufe machen. Aber wenn es um Disziplin, Zusammenhalt und Respekt, untereinander und dem Gegner gegenüber, geht, dann bin ich gern Oldschool. Denn all das gehört für mich dazu.”
Demuth, der ab 2007 fünf erfolgreiche Trainerjahre bei Babelsberg 03 erlebte und seitdem in Potsdam lebt, ließ seine Neuruppiner Feierabendfußballer in der Vorbereitung viermal wöchentlich trainieren, während der Saison gab es drei Einheiten. Fleiß, Arbeit, Geradlinigkeit, kein Schnickschnack – so war das immer schon bei ihm. Er ließ seinen Spielern immer viel durchgehen. Vorausgesetzt, sie beherzigte seine Prinzipien und ließen am Wochenende ihr Herz auf dem Platz.
Demuth, der Weltpokalsiegerbesieger
Es gibt die Legende, dass ihn Holger Stanislawski und Nico Patschinski in der Pause des legendären 2:1-Siegs des FC St. Pauli gegen Weltpokalsieger FC Bayern in der Kabine um Feuer für ihre Zigaretten gebeten hätten. Angesprochen auf die Geschichte aus dem Jahr 2002 grinst er: „Das kann ja gar nicht sein. In der Kabine galt schließlich Rauchverbot. Zum Qualmen mussten die Spieler immer aufs Klo gehen.“
Ob Zigaretten, Alkohol oder Schaschlik-Schorsch – was zählt, ist auf dem Platz. „Am liebsten habe ich mit echten Patienten zusammengearbeitet: Patschinski, Harry Rath, Scheinhardt… Die haben richtig Gas gegeben. Ich hatte viele Chaoten. Später auch Stroh-Engel. Aber mir sind solche Spieler hundertmal lieber als einer, der keine eigene Meinung hat.“
Deshalb lässt er auch kein gutes Haar an der heutigen Spielergeneration. „Die sind verweichlicht, können keine Kritik mehr ab. Aber so ist unsere Gesellschaft“, schimpft er und betet die Buzzwords herunter: „Nach dem Abi erst mal Pause machen, später dann Vier-Tage-Woche. Mehr Geld für weniger Arbeit. Sechs Stunden täglich. Homeoffice. Da muss sich Deutschland nicht wundern.“ Social Media hält er für eine Krankheit. Einen eigenen Account hat er natürlich nicht: „Das geht mir auf den Sack.“
Es kann Spaß machen, ihn mit Vokabeln jüngerer Generationen zu quälen, auch fußballspezifisch: Wie groß ist sein Staff in Neuruppin? „Ich habe einen Co-Trainer und einen Torwarttrainer. Für die Brandenburgliga langt das. Wenn ich RB Leipzig sehe: da kommt der Trainerstab ja mit einem eigenen Bus vorgefahren. Da ist ein Schlaftrainer dabei, da ist einer für den linken Fuß, einer für den rechten Fuß, für die Defensive, für die Offensive, einer für Ernährung, für die Blutwerte… die haben sogar einen eigenen Sternekoch.“
Dietmar Demuth in Afrika
Als Spieler und Trainer hat er das anders kennengelernt, stammt auch fußballerisch aus einer anderen Zeit. Doch selbst nach damaligen Maßstäben war Demuth nie einer fürs Detail. Kein verkopfter Taktikfuchs, der als Professor oder General Rasenschach spielen ließ. Stattdessen hemdsärmelig und pragmatisch, mit viel Liebe zum Spiel und die Kabinengemeinschaft. Ob bei Eintracht Braunschweig, Chemie Leipzig oder in Afrika.
Etwas zufällig – er war eigentlich als potenzieller Nationalcoach nach Ghana gereist – wurde er 2003 Trainer von Ashanti Gold SC. „Ich kannte den afrikanischen Fußball nicht so, und mein Englisch war eine Katastrophe. Aber das war ein Highlight. Das waren eigentlich nur Highlights“, sagt er über sein einjähriges Abenteuer. Wirklich verständigen konnte er sich zunächst nicht: „Yes. No. Dapp, dapp dapp. Viel mehr war da nicht bei mir. So richtig Englisch konnten die ja aber auch nicht.“
Um sich sprachlich zumindest ein paar Fachbegriffe draufzuschaffen, schaute er viel englischen Fußball im TV und notierte sich, was er hörte: „Corner, first post ... und ich dachte nur: Watt is los?“ Die Feuerprobe folgte prompt beim ersten Vorbereitungsspiel. „Die Mannschaftssprache war legendär. You ... äh, du stellst dich an den ersten Pfosten. Was heißt denn bloß Pfosten? Und dann: left side, defense. Soundso. Meine Güte. Als ich fertig war, dachte ich: Was hast du denen jetzt eigentlich für einen Blödsinn erzählt?!“
Unfug sei auch heute vieles. Als Nürnbergs Trainer Robert Klauß vor vier Jahren seine legendäre Analyse mit einer „in Ballbesitz abkippenden Dreierkette, „asymmetrischem Linksverteidiger“ und einem „breitziehenden linken Zehner“ ins Mikrofon sprach, „habe ich mich geschämt, dass der ein Trainer ist. Peinlich“, schimpft Demuth.
Gleichwohl kann er die Auswüchse der Professionalisierung nachvollziehen und ist froh, sich bei seinen Profistationen auf St. Pauli, in Braunschweig oder Chemnitz nicht mit Themen wie Videoanalyse beschäftigt haben zu müssen: „Ich will die Spieler nicht langweilen, denn ich weiß, dass die das nicht interessiert. Es ist alles ein wenig überzüchtet.“
Worte, die seiner eigenen fußballerischen Sozialisation entsprechen. Demuth war Starkstromelektroniker, schloss bei AEG Schiffbau seine Lehre ab. Nebenbei spielte er Fußball, anfangs noch als Stürmer, und schoss mehr als 100 Tore pro Saison. Seinen ersten Vertrag bei St. Pauli unterschrieb er als Wehrpflichtiger. „Ich habe aus Freude und Spaß Fußball gespielt. Ich habe Geld bekommen, von dem ich leben konnte. Und damit war ich auch zufrieden: mit den Jungs zusammenzuarbeiten, mit den Jungs Fußball zu spielen, mit den Jungs abends auszugehen. Es war eine andere Welt.“ Unbeschwerter, mitunter aber auch härter. Unter Diethelm Ferner wurde in der Vorbereitung bis zu viermal täglich trainiert. Trinkpausen gab es nicht. Stattdessen wurden regelmäßig Salztabletten verabreicht. Demuth lacht: „Wahnsinn. Aber gestorben ist keiner, und gutgetan hat es uns auch allen.“
Nebensächlichkeiten seien zu wichtig geworden. Denn letztlich gehe es auch trotz der Detailarbeit letztlich immer um den Kern: „Es ist egal, was du in der Woche machst. Du musst erfolgreich sein. Und wenn du eine gute Truppe hast und die bei Laune hältst, dann bist du auch erfolgreich. Die Trainingsinhalte haben sich natürlich verändert, weil man ein anderes System spielt. Aber der Fußball hat sich nicht verändert: Tor verhindern, Tor schießen, und dazwischen ist irgendwo ein bisschen Taktik. Das ist der Sinn des Fußballs.”
Demuth und die Nationalmannschaft
Er muss es wissen, stand in 141 Bundesliga- und 192 Zweitligaspielen auf dem Feld. Was kaum jemand weiß: Für St. Pauli schoss er 1977 das erste Bundesligator der Vereinsgeschichte, und auch bei Bayer Leverkusen war er zwei Jahre später der erste Spieler, der im Oberhaus traf.
Als der 1. FC Köln 1981 den 26-jährigen Demuth verpflichtete, stand der nächste Karriereschritt an. Weil Leverkusen aber auf den Vertrag pochte, platzte der Wechsel, und die Kölner holten Paul Steiner. „Ich war besser als Steiner“, sagt Demuth, „und auch besser als die Förster-Brüder. Ich konnte holzen, aber ich konnte auch Fußball spielen, war offensiv eingestellt.”
Demuth glaubt, dass ihn das Bayer-Veto eine Nationalmannschaftskarriere gekostet hat. „Ich war auf einem guten Weg, aber Leverkusen hatte damals null Lobby beim DFB. Dass Steiner 1990 sogar Weltmeister wurde, hat lange Jahre an mir genagt.“
Als Trainer hatte er die Möglichkeit, noch mal allen zu zeigen, was er kann und hängt in der kommenden Saison nun sogar ein weiteres Jahr dran. Als Spieler aber bleiben ihm nur die Erinnerungen. „Wir haben auch viel zusammen mit den HSV-Spielern gefeiert. Bei Horst Blankenburg standen wir in Dreierreihen vor dem runden Kneipentresen, bis irgendeiner gegen halb zwölf Uhr abends an den nächsten Tag erinnerte: ,Männer, wir haben morgen ein Spiel! Wir müssen uns vorbereiten. Machst du uns also noch mal einen Scheidebecher‘“, sagt er. Seine blauen Augen funkeln: „Aber etwas anderes war genauso klar: Am nächsten Tag hat einer für den anderen geackert. Eine schöne Zeit.“
Wenn Lutz Wöckener nicht gerade irgendeinen Sport im Selbstversuch ausprobiert, schreibt er über Darts und Sportpolitik, manchmal aber auch Abseitiges wie Fußball.
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