Nach dem 20. Spieltag liegt Rot-Weiss Essen am Boden. Kaum jemand glaubt, dass sich die Dinge zum Guten werden. Es herrschen Wut und Angst. Trainer Uwe Koschinat entschließt sich zu einem krassen Schritt.
Was waren das für ikonische Bilder: Am 24. Mai baute sich Coach Uwe Koschinat in der Duisburger Fußballarena vor den Fans von Rot-Weiss Essen auf und schrie ihnen die ganze Freude entgegen, die sich über vier Monate in ihm aufgebaut hatte. Auf der fantastischen Reise, die er mit RWE erlebt hatte - entgegen aller Erwartungen zum Jahresbeginn.
Er flog nun, getragen auf Spielerhänden, durch die Luft und genoss die "Uwe, Uwe"-Rufe. RWE, dieser höchst emotionale Drittligist, hatte diese gleichermaßen turbulente wie außergewöhnliche Saison mit dem Sieg im Niederrheinpokal gegen den alten Rivalen MSV beendet und sich für den DFB-Pokal qualifiziert. Es war das zweite amtliche Statement des Klubs in diesem Kalenderjahr. Die noch kurz vor Weihnachten zum Abstieg vorverurteilte Mannschaft hatte sich zuvor am eigenen Schopf aus dem Elend gerissen und donnerte als zweitbestes Rückrunden-Team dem Horrorszenario davon.
"Wir waren in diesem Spiel unfassbar schlecht"
Am Abend des 19. Januar war das undenkbar gewesen. Die schöne Welt, die sich der Krisen-Riese RWE mit "intelligenten Transfers" (mehr dazu gleich) und einem erfolgreichen Trainingslager in der Türkei - in der die Stimmung gedreht und Drittliga-Topklub Dynamo Dresden erfolgreich bespielt wurde (1:1) - erschaffen hatte, stürzte in sich zusammen. Es tat sich ein Tagesbruch auf, der alles verschlang, vor allem die Hoffnung. "Wir haben auf ganzer Linie versagt. Wir waren in diesem Spiel unfassbar schlecht", sagt Koschinat im Gespräch mit ntv.de. Essen verlor bei Alemannia Aachen mit 0:2. Der Aufsteiger verzog sich ins Mittelfeld, RWE fiel auf Platz 19. Die gute Arbeit der vergangenen Jahre, der Aufbruch, die zarten Träume von einer Rückkehr in die 2. Bundesliga, sie wurden zerfetzt. In aller Brutalität.
Koschinat hat die Dinge, die da unerwartet passierten, sacken, aber nicht zu nah an sich herankommen lassen. Er hat sich über die langen Jahre als Trainer einen anderen Blick angeeignet auf den Fußball. Er möchte nicht auf das schauen, was misslingt. Er guckt auf das, was gelingt. Und da hatte er nach dem 19. Januar viel zu gucken.
Man widme, so findet er, dem Erfolg grundsätzlich viel zu wenig Aufmerksamkeit. Der 53-Jährige hat das für sich geändert. Und so erlebt er derzeit ein paar sehr gute Tage im heimischen Garten. Dort bleibt bei der kreativen Umgestaltungsarbeit Zeit, für eine "positive Selbstreflexion. Das bringt dich doch viel weiter, als sich die ganze Zeit mit den Negativereignissen auseinanderzusetzen."
Der Schreck grüßt: Dorfplätze, kollabierende Vereine
Am Abend des 19. Januar drohte die Stimmung bei RWE wieder zu kippen. Gegen die Mannschaft, gegen den Trainer, gegen alles. Es war das dritte Pflichtspiel für Koschinat. Vor der Winterpause hatte er eins verloren und im anderen nur ein Remis geholt. Koschinat hatte den glücklosen Christoph Dabrowski abgelöst. Teile der Anhänger sahen in ihm allerdings nicht den Schuldigen für die Misere. Was sie aber alle sahen: die verabscheute Schweineliga. Sie sahen Richtung Regionalliga West, sahen etwas, dass sie nie wieder sehen wollten. Sie sahen Dorfplätze und kollabierende Vereine. Sie sahen mehr Amateur- denn Profifußball.
Warum tat Koschinat sich das eigentlich an? Dieses Drama, bei diesem großen Klub, der so mitreißend und so zerstörerisch sein kann, weil er so oft gescheitert war. Koschinat erzählt von einer frühen Faszination für die Hafenstraße, für RWE. Als Trainer von Fortuna Köln war er oft an diesem Ort tief im Herzen des Ruhrgebiets. Er spürte da die Kraft, die RWE in sich trägt. Er spürte, wie dieser abgerockt-ehrliche Verein in ihm etwas auslöste. Dass es zwischen ihm, diesem emotionalen Kerl, und Rot-Weiss passen könnte. Er sah die Fans, die alles für diesen Verein geben. Und er hoffte, dass er diesen Verein eines Tages übernehmen werde. "Aber ich wusste auch, ich werde RWE nicht in einer guten Phase bekommen, sondern, nur wenn es schwierig ist." Und schwierig war es, als er am 12. Dezember offiziell übernahm. Sehr schwierig sogar.
Koschinat schärfte den Blick. Er erkannte, dass einige Spieler dem Druck bei RWE nicht gewachsen waren. "Der Verein hat eine wahnsinnige Wucht. Das haben wir in den positiven Phasen gemerkt, aber eben auch in den negativen. Und da verstärkt sich diese Wucht noch." Koschinat nahm einige Spieler nach dem Aachen-Debakel aus der Verantwortung, verteilte die Aufgaben auf dem Feld noch einmal klarer und warf andere Fußballer rein. Vor allem Klaus Gjasula. Der war erst im Januar gekommen, aber verknüpft mit größten Erwartungen. Gjasula ist ein Mentalitätsmonster, ein Kämpfer, Zweikämpfer. Einer, der sich vor nichts fürchtet, sich immer stellt. Mit 17 Gelben Karten in nur 27 Spielen hält er den Verwarnungsrekord in der 1. Bundesliga. In Essen mögen sie solche Typen. Sie personifizieren die Geschichte des Klubs, der Stadt, auch wenn sie nicht hierherkommen. Gjasula ist in Tirana, Albanien, geboren.
Gjasula spielt, RWE fliegt
Ein Mann wie Gjasula hatte ihnen gefehlt. Darüber waren sich RWE und Koschinat einig gewesen, als sie ihre Zusammenarbeit ausloteten. Im Sommer 2024, nach einer starken Spielzeit, war in Essen vieles in Schieflage geraten. Topspieler wie Felix Götze oder Vinko Sapina zogen weiter. In der Führungsstruktur des Klubs gab es Veränderungen. Der Kader fand sich spät, zu spät. Eingeplante Leistungsträger wie Ahmet Arslan taten sich schwer in die Saison reizukommen. Ein junger Hoffnungsträger wie Tom Moustier - – anfangs lange verletzt (Mittelfußbruch) – hetzte wie ein wilder Hund übers Feld. Ihm fehlte ein Anker. Ein Gjasula, der so viel erlebt hatte. Die Fußball-EM 2024 mit Albanien, Darmstadt 98, den SC Paderborn, auch den Hamburger SV. Die Stationen seiner Laufbahn sind zweistellig.
Sieben Tage nach dem Drama von Aachen wartete Hannover 96 II. Ein Do-or-die-Spiel für die Stimmung in Essen. Gjasula, am Tivoli noch krank ausgefallen, meldete sich nach einem schweren Infekt fit. "Er hat gesagt, ich stelle mich. Und die Mannschaft hat sofort gemerkt, dass sie einen unglaublichen Leader dazugewonnen hat. Der egal in welcher Lage vorangeht. Er hat sicher nicht in jedem Spiel am absoluten Optimum performt, aber er hat so viele Spieler besser gemacht, sie sind an seiner Seite explodiert. Er hat einfach eine sehr starke Ausstrahlung", sagt Koschinat. Er lebte vor, was Essener Fußballer immer tun sollten: kämpfen bis zum Umfallen. Er lebte die Spielphilosophie seines Trainers dem Rest der Mannschaft vor: Stabilität, defensive "Geilheit."
RWE stellte plötzlich die beste Abwehr der Liga. Tobias Kraulich, Michael Schultz und José-Enrique Rios-Alonso hielten den Laden zusammen. Dahinter stand mit Jakob Golz, der Sohn der HSV-Ikone Richard Golz, ein Top-Torwart. Gjasula dirigierte, Moustier revolutionierte sein Spiel. "Er hat sich zu einem strategischen Fußballer entwickelt", lobt Koschinat. Plötzlich griffen die Rädchen, die sich vor in einem wilden Chaos aneinander vorbeigedreht hatten. Der Trainer gab der Mannschaft einen anderen Plan. Koschinat ist ein Verfechter der größtmöglichen Stabilität. "Mit diesem Ansatz habe ich die besten Erfahrungen gemacht", betont er. Er trichterte seiner Mannschaft eine defensive Mentalität ein, baute das System um, setzte etwa auf drei körperlich starke Innenverteidiger. "Wir haben uns komplett verändert." War RWE in der Vorsaison noch ein Team, das sich über Ballbesitz und viel Risiko im Spielaufbau definierte, wurde RWE nun zu einem kompakten Giganten.
Koschinat verbannt das Risiko
"Wir haben intensiv im Verteidigungsdrill gearbeitet. Immer wieder haben wir uns im Training selbst unter Stress gesetzt, haben das Spiel zwischen Torwart, letzter Reihe, Außenverteidigern und Zentrum verbessert." Koschinat stellte den Verteidigungscharakter in den Fokus, nahm das Risiko aus dem Spielaufbau. In der Hinrunde erledigte sich RWE mit wilden Fehler oftmals selbst. Ein solch radikale Veränderung ist immer auch ein großes Wagnis. Sie muss sich in der Mannschaft verfangen. Gibt es keine Erfolge, droht die Zustimmung verloren zu gehen. Oder gar nicht erst aufzukommen. Aber RWE gewann gegen Hannover (5:1) und siegte danach auf der Bielefelder Alm, anders als die Bundesligisten Bayer Leverkusen und Werder Bremen. Sie scheiterten in diesem Kalenderjahr im DFB-Pokal bei der Arminia. Als dann auch noch Ingolstadt nach einem langen, defensiven Abnutzungskampf niedergerungen wurde, sahen sich Spieler und Fans bestätigt: Der Koschinat-Weg funktioniert. Sie gingen ihn mit Freude und Leidenschaft. "Jeder im Team hat die Verantwortung übernommen, ständig mit abzusichern."
Der Ansatz, der RWE weit nach oben spülte, auf Platz acht der Endabrechnung, soll nicht verändert werden. Er ist eben die Überzeugung von Koschinat. Gemeinsam mit Kaderplaner Marcus Steegmann arbeitet er derzeit an der Weiterentwicklung des Kaders. Der bleibt zwar zu großen Teilen zusammen, aber ein paar Probleme haben der Trainer und der Funktionär ausgemacht. Koschinat vermisste einen kräftigen Stürmer. Manuel Wintzheimer und Moussa Doumbouya konnten die Rolle auch wegen gesundheitlicher Rückschläge nicht ausfüllen. Mit Marek Janssen kommt im Sommer ein Mann nach Koschinats Geschmack: groß, abschlussstark und hungrig. Janssen soll aber nicht alleine bleiben. Der Coach wünscht sich einen starken Herausforderer mit gleichem Profil.
Was auch auf seinem Wunschzettel stand: Ein weiterer robuster, starker Spieler für das Zentrum. Möglichst flexibel soll er sein, um Gjasula zu entlasten, oder auch mal in der letzten Reihe auszuhelfen. Der wurde mit dem 24-jährigen Luca Bazzoli von Zweitligist Preußen Münster nun gefunden. Gjasula ist 35, die Anfälligkeit für Verletzungen steigt. RWE will sich auf der Schlüsselposition mit Erfahrung und Autorität absichern. Die größte Herausforderung aber dürfte werden, Julian Eitschberger zu ersetzen. Der Rechtsverteidiger muss zurück zu Hertha BSC. "Er ist ein absoluter Highlightspieler, einer, der künftig in anderen Sphären spielen wird", sagt der RWE-Coach. Sonst geht es vor allem um Tiefe, um Backups. Der Kader soll aber nicht zu groß werden. "Wir sind schon sehr, sehr weit, haben ein sehr gutes Fundament", findet Koschinat.
Wie reagiert RWE auf größere Rückschläge?
Ein sehr gutes Fundament, um die Geschichte fortzuschreiben. Aber wo soll sie eigentlich enden? Mit Arminia Bielefeld ist die beste Mannschaft der Rückrunde aufgestiegen, mit dem Ost-Riesen Dynamo Dresden verlässt ein weiteres Schwergewicht die Spielklasse. Träume von der 2. Bundesliga gibt es auch in Essen. Immer. Das weiß Koschinat. Die 3. Liga ist unberechenbar. Sein Ex-Klub SV Sandhausen hat es gerade erst vorgemacht. Am 11. Spieltag führte das Team die Tabelle mit 22 Punkten an und stieg am Ende mit 35 Zählern ab. "Es ist in der Liga sehr selten so, dass die Mannschaft hoch gehen, die von Beginn an stark eingeschätzt wurden. Bestes Beispiel war Energie Cottbus in dieser Saison". Die Liga sortiert sich wieder einmal um, sechs neue Teams werden reingespült. Unter anderem der MSV Duisburg.
Demut hat RWE weit gebracht. Es ist ein guter Weg. Auf dem einige Dinge für Koschinat aber noch unerforscht sind. Wie zum Beispiel gehen Mannschaft, Fans und Klub mit Rückschlägen um, die mal über zwei, drei Wochen andauern. Wie gefestigt ist das Konstrukt RWE? Wie nervös wird das Umfeld? Seine ersten Monate an der Hafenstraße können dafür kein Abziehbild sein. Weil er erstmal Welpenschutz spürte und dann, als es kritisch wurde, nur noch schwarzes Gold glänzte. Was er sich für die kommende Saison wünscht: Dass RWE nicht nochmal eine so schlimme Halbserie erlebt, wie im vergangenen Jahr. Und mittelfristig? Ein Stadion für 26.000 Zuschauer und ein herausragend etablierter Drittligist zu sein. Mindestens. Um das Sehnsuchts-Szenario 2. Bundesliga windet er sich (noch). "Man muss aufpassen, dass man sich als Klub nicht zu schnell in seiner Idee überholt, wir dürfen nicht vergessen, dass RWE über ein Jahrzehnt in der Regionalliga feststeckte."
Aber es ist eben auch so: Die Sehnsucht nach der 2. Bundesliga ist ein ewiger Begleiter dieses Vereins. Und die Euphorie so groß wie lange nicht. "Die Mitgliederzahlen explodieren, die Menschen haben richtig Bock auf uns." Das war am Abend des 19. Januar unvorstellbar.
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