Es fühlte sich beinahe wie ein Nachhausekommen an. Freitagmittag bezogen die Nationalspieler und das Trainerteam des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) ihr Quartier im „Homeground“ von Adidas in Herzogenaurach. Der Sportartikelhersteller ist bis Ende 2026 Ausrüster der deutschen Nationalmannschaft, das Areal mit 15 Häusern und einem Trainingsplatz diente bereits während der Europameisterschaft 2024 als Teamquartier. Wie damals teilen sich jeweils vier Spieler die Zimmer in einem der Holzhäuser, rund um den Pool ist der zentrale Treffpunkt.
Die deutsche Auswahl genoss es dort so sehr, dass sie bereits unmittelbar nach dem Turnier rund um zwei Länderspiele nach Herzogenaurach zurückkehrte – und nun erneut, da die Spiele beim Final Four der Nations League anstehen. Es ist ein besonderes Turnier, eine Art „Mini-EM“, die unter Bundestrainer Julian Nagelsmann einen deutlich höheren Stellenwert bekommen hat. Der Triumph in der Nations League wäre – ein Jahr vor der WM in den USA – ein sehr wichtiger Etappenerfolg.
Am kommenden Mittwoch trifft Deutschland in München im Halbfinale auf Portugal (21 Uhr, ZDF und DAZN). Geht Nagelsmanns Mannschaft, die sich am Freitagnachmittag gleich bei einer öffentlichen Trainingseinheit rund 4000 Fans präsentierte, als Sieger hervor, bestreitet sie am 8. Juni in München das Finale gegen den Sieger des zweiten Halbfinals zwischen Spanien und Frankreich am Donnerstag (21 Uhr, ARD und DAZN). Verlieren die Deutschen gegen Portugal, spielen sie in Stuttgart um Platz drei.
Der Bundestrainer will, das hat er in den vergangenen Monaten immer mal wieder betont, die Nations League unbedingt gewinnen. Jenen Wettbewerb, der 2018 auf Geheiß des europäischen Verbandes Uefa erstmals ausgetragen wurde und trotz des zusätzlichen Geldes, das es für die Verbände seither gibt, anfangs überwiegend auf Ablehnung stieß. Jürgen Klopp etwa, damals gerade drei Jahre Trainer beim FC Liverpool, verurteilte die Einführung der Nationenliga damals scharf: „Die Nations League ist der sinnloseste Wettbewerb der Welt.“
Inzwischen ist die Akzeptanz deutlich gestiegen. Mit Blick auf den Wettbewerb hat Nagelsmann ein Vorbild: Spaniens Selbstverständnis, das aus dem Gewinn der Nations League ein Jahr vor der EM 2024 erwachsen sei. „Es ist keine Garantie, dass du 2026 Weltmeister wirst, wenn du das Final Four in der Nations League gewinnst. Es ist aber auch ein kleiner Titel, den man gewinnen kann“, so der 37-Jährige.
26 Spieler – darunter drei Torhüter – hat Nagelsmann für das Unterfangen nominiert. Sie sollen ihren Teil dazu beitragen, den positiven Trend fortzusetzen. Im Viertelfinale hatte sich die deutsche Elf im März in zwei Spielen gegen Italien (2:1, 3:3) behauptet. Bislang fällt die Bilanz von Nagelsmann, der im September 2023 auf den entlassenen Hansi Flick gefolgt war, positiv aus: In 21 Länderspielen gab es zwölf Siege, sechs Unentschieden und drei Niederlagen.
Experten und Fans haben Gefallen an seiner Arbeit gefunden. Sie wertschätzen die Art, wie Nagelsmann die Mannschaft führt, wie er sich in der Öffentlichkeit gibt. Seine Spielidee ist durchdacht, zudem propagiert der Trainer nicht nur das Leistungsprinzip – er wendet es auch an.
Allerdings: Rund um die Nominierung des aktuellen Kaders gab es Kritik, wenn auch nur verhalten. Nagelsmann überraschte mit dem Verzicht auf Jonathan Burkardt, den mit 18 Toren besten deutschen Stürmer der vergangenen Saison. Dass er stattdessen neben Shooting-Star Nick Woltemade, der mit dem VfB Stuttgart gerade den DFB-Pokal gewann, auf Niclas Füllkrug und Deniz Undav setzt, sorgte für Verwunderung. Füllkrug, der lange verletzt war, erzielte für West Ham United in 19 Saisonspielen nur drei Tore, Undav für den VfB neun in 27 Bundesligaspielen.
„Ich bin schon verwundert, insbesondere nach der Verletzung von Tim Kleindienst, dass der erfolgreichste deutsche Stürmer der Bundesligasaison nicht nominiert ist. Schade“, monierte Christian Heidel, der Sportvorstand von Burkardts Arbeitgeber 1. FSV Mainz 05. Lothar Matthäus, mit 150 Länderspielen deutscher Rekordnationalspieler, sagte, dass er Burkardts Nichtnominierung als überraschend und bitter empfand: „Er ist in Mainz der Kapitän und Top-Torjäger – das ist ein Rückschlag.“
Aufgrund des Ausfalls von Angelo Stiller (Stuttgart, Sprunggelenksverletzung) kann sich Burkardt nun aber doch beweisen. Nagelsmann nominierte ihn am Mittwoch nach. Antonio Rüdiger, Nico Schlotterbeck sowie Jamal Musiala und Kai Havertz fehlen verletzt. Marc-André ter Stegen dürfte rund neun Monate nach seiner schweren Knieverletzung auf Anhieb anstelle von Oliver Baumann wieder im Tor stehen.
Vielleicht tragen er und der Mainzer Burkardt am Ende auch einen Teil dazu bei, das Final Four zu gewinnen. Nach dem Gewinn der A-Junioren-Meisterschaft mit der TSG Hoffenheim 2014 und der deutschen Meisterschaft mit dem FC Bayern 2022 wäre es ein weiterer Titel für Nagelsmann, für den Joachim Löw, der von 2006 bis 2021 Bundestrainer war, voll des Lobes ist.
„Julian macht seine Sache gut. Seine Maßnahmen nach einem eher schlechten Jahr 2023 haben gefruchtet“, sagte der Weltmeister-Trainer von 2014 WELT AM SONNTAG. „Er hat richtige Entscheidungen getroffen, wie etwa die, die Spieler in Gruppen einzuteilen – in die, die gesetzt sind, und die, die sie herausfordern. Das hat in der Phase des Umbruchs perfekt gepasst und war wichtig. Man spürt, dass wir spielerisch wieder auf einem anderen Niveau agieren, da der Julian ein innovativer und kreativer Trainer ist, der das Spielerische fördert. Ballbesitz und Dominanz sind ihm wichtig.“
Joachim Löw: „Florian Wirtz hat kein Limit nach oben“
Dazu habe die deutsche Mannschaft, ergänzte der 65-Jährige, wieder eine gute Achse und in Florian Wirtz und Jamal Musiala Spieler, die den Unterschied ausmachen. „Deutschland kann wieder um Titel mitspielen, Deutschland hat wieder eine Chance“, sagte Löw – und fügte auf Nachfrage in Bezug auf den Leverkusener Wirtz an, der offenbar vor einem Wechsel zum FC Liverpool steht: „Der Florian hat ja kein Limit nach oben. Er hat so viele Qualitäten in seinem Spiel, dass er überall Chancen hat, eine gute Entwicklung zu machen.“
Löw war Bundestrainer, als die Nations League 2018 erstmals ausgetragen wurde. Die deutsche Elf, die damals überraschend bei der WM in Russland in der Vorrunde ausgeschieden war, erlebte einen holprigen Start: Auf ein 0:0 gegen Frankreich folgten ein 0:3 gegen die Niederlande und ein 1:2 gegen Frankreich.
Löw empfand die Nations League anfangs als störend, weil es weniger Freundschaftsspiele gab, in denen er gern junge Spieler eingesetzt hat, um diese zu testen. „Für mich war es damals der Wettbewerb Nummer drei. Erst gab es die WM oder EM, dann die Qualifikation für so ein Turnier – und da musste man Erster oder Zweiter werden, um dabei sein zu können, was nicht einfach war, da es immer ein, zwei starke Gegner gab.“
Inzwischen habe sich die Sinnhaftigkeit des Wettbewerbs geändert, so Löw. Die Nations League habe die Qualifikation von der Wertigkeit her abgelöst. Das würde man an den Gegnern sehen, mit denen es Deutschland im Kampf um einen Startplatz bei der WM 2026 ab Herbst zu tun habe. Die seien nicht ganz so stark. Deutschland trifft in der Gruppe A auf die Slowakei, Nordirland und Luxemburg.
Joachim Löw ist guter Dinge, was das Final Four betrifft. Beim Halbfinale gegen Portugal wird er in München auf der Tribüne sitzen. „Starke Gegner sind ein guter Maßstab. Man kann sich ein Jahr vor dem Turnier auf Augenhöhe messen und sehen, was gut und was noch nicht so gut klappt“, sagte Löw. Der Nations-League-Titel würde der Mannschaft ein gutes Gefühl geben, gleichwohl bis zur WM in den USA, Kanada und Mexiko im Sommer 2026 noch viel Zeit ist, in der sich Dinge ändern können.
Viel Geld zu verdienen in der Nations League
Abgesehen von der sportlichen Wertigkeit gibt es in der Nations League auch noch viel Geld zu verdienen. Allein für die Teilnahme an der Gruppenphase kassierten die Nationen in der Liga A, zu denen Deutschland zählt, 2,25 Millionen Euro. Der Gruppensieg wurde mit weiteren 2,25 Millionen Euro prämiert. Bislang hat die deutsche Mannschaft in dieser Saison also schon 4,5 Millionen Euro in der Nations League eingenommen.
Sollte sie sich mit einem Sieg über Portugal für das Endspiel qualifizieren, würden weitere 4,5 Millionen Euro an Prämien fließen. Für den Finalsieg gäbe es noch einmal 1,5 Millionen Euro. Insgesamt könnte Deutschland also über zehn Millionen Euro in nur einer Nations-League-Saison verdienen.
Die zehn Tage rund um die zwei Spiele in der Nations League sind auch eine Abschiedstour für Assistenztrainer Sandro Wagner. Er verlässt den DFB auf eigenen Wunsch – und wird neuer Trainer beim Bundesligaklub FC Augsburg. Auf ihn folgt der frühere Profi Benjamin Hübner, der zuletzt im Trainerstab bei Hoffenheim war.
Nagelsmann und Hübner kennen sich aus der gemeinsamen Zeit bei der TSG. Nagelsmann war Trainer, Hübner sein Spieler. Der 35-Jährige, der von Nagelsmann als „Teamplayer“ gepriesen wurde, der schon als Spieler strategisch gedacht habe und ein Anführer gewesen sei, tritt ein großes Erbe an. Mag Wagner lediglich Assistent des Bundestrainers gewesen sein – letztlich war seine Rolle eine sehr bedeutende.
Wagner wirkte intensiv bei der Kaderzusammenstellung mit, zeigte sich verantwortlich für eine gute Chemie in der Gruppe und für die Rollenverteilung jedes Spielers, auf und neben dem Spielfeld. Wagner führte viele Gespräche und hatte ein Gespür für Themen, die die Nationalspieler beschäftigten – er wirkte diesbezüglich auch als Vermittler zwischen dem Bundestrainer und der Mannschaft. Wagner war beliebt. Mit ihm verliert Julian Nagelsmann eine wichtige Stütze.
Möglicherweise gewinnen sie zum Abschluss ja noch gemeinsam einen Titel.
Julien Wolff ist Sportredakteur. Er berichtet für WELT aus München über den FC Bayern und die Nationalmannschaft sowie über Fitness-Themen. Bereits mehrfach wohnte er während der Trainingslager der Fußball-Nationalelf im beschaulichen Herzogenaurach.
Lars Gartenschläger ist ebenfalls Sportredakteur. Er berichtet für WELT seit vielen Jahren über die Nationalmannschaft sowie über zahlreiche Fußball-Themen. Mit Wolff wird er auch dieses Jahr in Herzogenaurach sein und von dort aus berichten.
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