Auf dem Boden lagen Tote und Sterbende nebeneinander. Der Gestank war unerträglich. Einige riefen nach Wasser, andere beteten, viele schrien nur noch. „Kein Arzt, kein Brot, kein Stroh.“ In dieser Tagebuchnotiz beschreibt Franz Röder, Leutnant der Hessischen Leibgarde, was er 1812 in einem „Haus, das man als Lazarett bezeichnete“, in Wilna, dem heutigen Vilnius beobachtet hatte. Röder überlebte diesen Krieg, und sein posthum veröffentlichter Augenzeugenbericht gilt als eine der authentischsten Schilderungen des Russlandfeldzugs von Napoleon Bonaparte.
Im Sommer 1812 hatte der französische Kaiser mehr als 500.000 Soldaten der verschiedensten Nationalitäten angeführt, um das russische Zarenreich zu erobern. Trotz zahlreicher Verluste konnte Napoleon in Moskau einmarschieren, musste sich aber nach verheerenden Bränden am 19. Oktober aus der isolierten Stadt und dem Land zurückziehen – weit nach Westen. Im Dezember lebte nur noch ein Bruchteil seiner „Grande Armée“.
Im Multikulti-Heer von Napoleon I. haben Anhaltiner, Badener und Württemberger, Bayern, Hessen, Sachsen und Westfalen neben Hanseaten, Italienern, Mecklenburgern, Polen und Schweizern mit den Franzosen gedient. Nicht zu vergessen, die bergischen Truppen sowie das preußische Hilfscorps und etliche weitere mehr.
Kam mit dem „Lagerfieber“ der Tod?
Historische Aufzeichnungen deuten darauf hin, dass weniger die gegnerischen Streitkräfte zum Tode von hunderttausenden Soldaten geführt hatten, sondern Hunger, Kälte – und Krankheiten. Die Ärzte dokumentierten Fieber, Durchfälle, Ruhr, Lungenentzündungen. Vor allem Typhus, das von Läusen übertragene „Lagerfieber“, wurde für das Desaster verantwortlich gemacht.
„Ich hatte zehn Tage kein Hemd gewechselt. Die Läuse krochen in solcher Menge, dass ich sie mit den Fingern zerdrücken musste. In der Nacht konnte ich nicht schlafen vor dem Jucken, und das Feuer, in das ich mein Hemd warf, knisterte, als ob man kleine Schüsse hörte.“ Aus Röders Beschreibung geht zweifellos hervor, dass die blutsaugenden Insekten nicht nur die einfachen Soldaten plagten, sondern auch ihre Offiziere. Als Winterquartier im Rückzug war die Stadt Wilna an der Neris vorgesehen, was sich als fataler Fehler erweisen sollte. Unter Hunger und erbarmungsloser Kälte litten sie dort alle.
„Am 8. Dezember erreichten wir endlich Wilna. Wir glaubten, hier Ruhe, Brot und Wärme zu finden – doch es war der Vorhof der Hölle. Die Straßen waren verstopft von Wagen, Verwundeten und Leichen; Pferde brachen unter der Last zusammen, und Menschen stürzten in den Schnee und blieben liegen.“ Was Röder (1774–1840) so eindrücklich beschreibt, bereichert heute das Hessische Staatsarchiv in Darmstadt.
Dort wird das Originaltagebuch aufbewahrt. Sein Sohn Karl ließ aber 1848 eine Abschrift der Notizen in kleiner Auflage drucken, und 1960 veröffentlichte sein Urenkel Johann Philipp eine überarbeitete Fassung – als Familienzeugnis und historische Quelle für ein breiteres Publikum.
„Kein Regiment, keine Ordnung war mehr zu erkennen. Jeder suchte nur noch Feuer, Brot, ein Dach. In den Häusern drängten sich Franzosen, Deutsche, Polen und Italiener; viele erfroren an den Türen, während andere das wenige Brot, das sie fanden, mit den Bajonetten verteidigten.“ Zehntausende Soldaten starben innerhalb kurzer Zeit und wurden an mehreren Orten verscharrt.
Auf eines dieser Massengräber waren Bauarbeiter 2001 im Norden der litauischen Hauptstadt Vilnius gestoßen. Archäologen konnten es der Zeit von Napoleons Rückzug im Winter 1812 zuordnen. Bei späteren Ausgrabungen eines französisch-litauischen Teams legten Anthropologen die Gebeine von Soldaten frei, deren Leichname offensichtlich steif gefroren waren, als man sie im Dezember 1812 beerdigte: Damals fielen die Temperaturen nachts unter minus 30 Grad Celsius. Die Zahl der Toten in diesem Grab wird auf mehr als 3200 geschätzt.
Französische Forscher der Université d‘Aix-Marseille fanden außerdem die Reste von typischen Uniformen – und von Läusen. Auch konnten sie die DNA-Spuren von zwei bakteriellen Krankheitserregern nachweisen: Bartonella quintana, führt zum „Schützengrabenfieber“, und Rickettsia prowazekii, Auslöser des von Läusen übertragenen Fleckfiebers, sprich epidemischer Typhus.
Dieser Befund aus dem Jahr 2006 ließ sich in den neuen Analysen anderer Gebeine aus dem Massengrab allerdings nicht bestätigen. Ein Team um Nicolás Rascovan, Leiter der „Microbiologic Paleogenomic Unit“ am Institut Pasteur in Paris stieß aber auf zwei andere Erreger. Wie die sieben Archäologen, Anthropologen und Palaeogenetiker jetzt im Fachjournal „Current Biology“ berichten, haben sie in den von ihnen untersuchten Proben keinerlei Hinweise auf Typhus gefunden.
Ihnen gelang es stattdessen, Erbinformationen zu gewinnen, die von Salmonella enterica Paratyphi C und Borrelia recurrentis stammen. Diese Bakterien sind dafür bekannt, enterisches Fieber, auch Paratyphus genannt, beziehungsweise Rückfallfieber zu verursachen. Zu letzterem informiert das Robert-Koch-Institut in Berlin unter anderem darüber, dass es sich bei dieser nicht-einheimischen Infektionskrankheit um eine Zoonose handelt.
Deren Erreger gehören zur Bakterien-Gattung Borrelia, und je nach beteiligtem Vektor werden unterschiedene Formen unterschieden, wichtig für diesen Fall: „Überträger ist die Kleiderlaus. Der Mensch – für Borrelia recurrentis der einzige Wirt – wird nicht beim Biss der Laus infiziert, sondern dadurch, dass (...) ihre Körperflüssigkeit in die Haut eingekratzt wird.“
Die Symptome der beiden nun aufgespürten Infektionskrankheiten ähneln sich: hohes Fieber, Erschöpfung und Magen-Darm-Beschwerden, und sie setzten 1812 wahrscheinlich den ohnehin geschwächten Soldaten zu – Männer, die unter Eiseskälte, Hunger und katastrophalen Hygienebedingungen litten.
„Es ist sehr aufregend, heute eine Technologie zu nutzen, um etwas zu erkennen und zu diagnostizieren, das 200 Jahre lang im Boden lag“, sagt Nicolás Rascovan. Mit seinen Kollegen untersuchte er die Zähne von 13 Soldaten, die das Team aus dem Massengrab in Vilnius bergen konnte. „Das Fehlen von Typhus-DNA in unserer Studie bedeutet jedoch nicht, dass Typhus während Napoleons Feldzug nicht in Erscheinung getreten ist“, betont Postdoktorand Rémi Barbieri, Erstautor der aktuellen Studie. „Unsere Ergebnisse widerlegen die Typhus-Hypothese nicht – sie ergänzen und vertiefen diese.“
Die Erhaltung der Erbinformationen in alten Skeletten hänge von mehreren Faktoren ab, etwa den Bestattungsbedingungen, der Bodenchemie – und Zeit. „Wir hatten die Gelegenheit, an der Fundstelle in Vilnius zu arbeiten, einem außergewöhnlich gut erhaltenen und archäologisch hervorragend dokumentierten Ort“, sagt Barbieri. Dennoch sei es sehr gut möglich, dass die DNA von Rickettsia prowazekii in den jetzt geborgenen Proben einfach bereits so stark zerfallen ist, dass sie nicht mehr nachweisbar war, erklärt der Forscher. „Oder dass die von uns untersuchten Soldaten stattdessen an anderen Krankheiten litten.“
Die Ergebnisse ergänzen das historische Bild
„Zeitgenössische Berichte beschreiben eindeutig Symptome von Typhus, und die Studie aus dem Jahr 2006 konnte tatsächlich Rickettsia prowazekii bei anderen Soldaten nachweisen, die an derselben Fundstelle in Vilnius bestattet waren“, sagt der französische Paläogenetiker, der inzwischen als Postdoktorand an der Universität von Tartu in Estland forscht. „Wahrscheinlich traten sowohl Typhus als auch andere Infektionskrankheiten auf, gleichzeitig, nebeneinander, und unsere Ergebnisse ergänzen das Bild um zwei neue Erreger, anstatt die früher vermuteten auszuschließen.“ Somit waren es also mindestens vier.
Daraus ergibt sich eine neue historische Perspektive, aus der sich die Katastrophe von 1812 jetzt betrachten lässt. Es war eben nicht die eine Seuche, die Napoleons Grande Armée zu Fall brachte, sondern eine komplexe Gesundheitskrise aufgrund mehrerer Faktoren– ein „Sturm“, so formuliert es Rémi Barbieri, aus sich überlagernden Epidemien unter extremen Umweltbedingungen.
Zugleich zeigt die Studie, wie moderne Genanalysen bisher unsichtbare biologische Zusammenhänge aufdecken können, die Historikerinnen und Historikern über mehr als zwei Jahrhunderte verborgen geblieben waren. Die sogenannte ancient DNA (aDNA) wird im Laufe der Jahre abgebaut und zerfällt in Fragmente, die für eine Vervielfältigung per PCR-Verfahren zu klein sind. „Unsere Methode kann ein viel größeres Spektrum an DNA-Quellen erfassen, indem sie diese sehr kurzen, alten Sequenzen erkennt“, erklärt Rascovan.
„Einer der entscheidenden Vorteile unseres Ansatzes liegt darin, dass er nicht auf bestimmte Erreger ausgerichtet ist: Wir haben alle bekannten Krankheitserreger des Menschen untersucht, anstatt uns – wie frühere Studien – auf ein oder zwei Bakterien zu beschränken“, erläutert Barbieri. Sämtliche gewonnenen, oft ultrakurzen DNA-Fragmente wurden mit einer umfassenden Datenbank menschlicher Krankheitserreger abgleichen, darunter 185 Bakterien, die als pathogen für den Menschen gelten.
„Zudem suchten wir nach Spuren von Parasiten und DNA-Viren. Doch nur bei zwei Bakterienarten war das Signal der ‚aDNA‘ stark und eindeutig genug, um eine Infektion zweifelsfrei nachzuweisen“, so Barbieri. Im Gegensatz zur früheren Technik ermöglicht die neue Methode, die auf „Shotgun-Sequenzierung“ basiert, den Forschern alle Erbinformationen ohne ein bestimmtes, vorgegebenes Ziel zu erfassen.
Auf diese Weise lassen sich selbst stark zerfallene oder völlig unerwartete Krankheitserreger nachweisen, aber sie ist weniger empfindlich als das PCR-Verfahren, wenn die Ziel-DNA nur in sehr geringer Menge vorhanden ist. „Typhus könnte also durchaus vorhanden gewesen sein, lag aber möglicherweise unterhalb unserer Nachweisgrenze“, sagt Barbieri. In Kombination mit computergestützten Analysen eröffne dieser Ansatz einen breiteren und objektiveren Blick auf das Infektionsgeschehen, das Napoleons Armee während des Russlandfeldzugs heimsuchte.
Zudem erlaubt die Gesamtheit aller Fragmente eine präzisere Identifizierung von Erregern. So ließ sich der nun entdeckte Borrelia-Stamm zu einer Linie zurückverfolgen, die bereits bei 2000 Jahre alten Proben aus Großbritannien nachgewiesen wurde, demnach schon ziemlich lange in Europa kursiert. „Das zeigt, welche Kraft die Analyse von aDNA hat – sie lässt uns die Geschichte von Infektionskrankheiten rekonstruieren, die wir mit modernen Proben allein nie nachvollziehen könnten“, sagt Rascovan.
Die Erschließung der Genom-Daten von Erregern, die in historischen Populationen zirkulierten, helfe ihnen, zu verstehen, wie Infektionskrankheiten sich im Laufe der Zeit entwickelten, ausbreiteten und verschwanden. Rascovan ergänzt: „Und welche sozialen oder Umweltzusammenhänge dabei eine Rolle spielten.“
„Als ich Wilna verließ, blieb hinter mir ein Meer von Toten. Die Kranken, die man zurückließ, riefen vergebens um Hilfe. Ich wusste, dass keiner von ihnen überleben würde. Wir marschierten weiter, mehr Schatten als Menschen. Die, welche noch gingen, schleppten sich im Schnee, und viele fielen, ohne ein Wort zu sagen.“ Röder selbst starb erst 1840, aber das von ihm dokumentierte Leid und Elend der Soldaten ist nicht auf das Jahr 1812 beschränkt.
Seit mehr als 25 Jahren verfolgt Sonja Kastilan als Wissenschaftsjournalistin ein breites Themenspektrum aus Medizin und Lebenswissenschaften: von Aids und Demenz über Evolutionsbiologie und Neandertaler hin zu Stammzellen und Zika.
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