Die gescheiterte Antarktis-Expedition des Polarforschers Ernest Shackleton gilt als eines der größten Abenteuer des 20. Jahrhunderts. Eigentlich wollte der Brite als erster Mensch die Antarktis durchqueren, doch sein Expeditionsschiff „Endurance“ wurde im Jahr 1915 überraschend früh im Weddellmeer vom Packeis eingeschlossen, allmählich vom Eis zermalmt und sank im November. Dass es alle 28 Besatzungsmitglieder dennoch unter widrigsten Bedingungen zur Insel Elephant Island schafften und dort im August 1916 gerettet wurden, wird nicht zuletzt dem Mut und der Entschlossenheit Shackletons zugeschrieben.

Das Schiffswrack wurde 2022 bei einer Expedition auf dem Grund des Weddellmeers in 3008 Metern Tiefe gefunden. Bis heute heißt es oft, die „Endurance“ sei eines der stabilsten Schiffe der damaligen Zeit gewesen. Gesunken sei sie letztlich, weil das Eis das Ruder zerstört habe. Dem widerspricht nun ein Experte der finnischen Universität Aalto ganz entschieden.

„Die ‚Endurance‘ verlor zwar ihr Ruder, aber deshalb ist das Schiff nicht gesunken“, schreibt der Ingenieur Jukka Tuhkuri im Fachjournal „Polar Research“. „Die ‚Endurance‘ wäre auch dann gesunken, wenn sie kein Ruder gehabt hätte.“ Stattdessen habe der enorme Druck durch das Packeis auf den Rumpf den Kiel aufgerissen.

Der Grund dafür: Die „Endurance“ sei von ihrer Bauweise her gar nicht darauf ausgelegt gewesen, solchen Eismassen standzuhalten. Und die für Shackleton-Verehrer wohl ernüchterndste Behauptung: Shackleton wusste das und nahm diese Gefahr für sich und seine Besatzung in Kauf.

Tuhkuri belegt seine Behauptungen einerseits anhand der Baupläne der „Endurance“ und an Beispielen etlicher anderer Schiffe, darunter durchaus prominent die Bark „Deutschland“, das Schiff der Zweiten Deutschen Antarktisexpedition 1911/1912. Zudem stützt sich der Autor auf Tagebuch-Einträge und Briefe Shackletons.

Tuhkuri war Mitglied der Mission „Endurance22“, bei der das Wrack vor drei Jahren aufgespürt wurde. „Der Autor hat das sehr schlüssig dargestellt“, sagt Thomas Busche vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), der ebenfalls an der Expedition teilnahm. „Die Fakten waren nicht unbekannt, man hat darüber gemunkelt – aber Tuhkuri hat die Erkenntnisse hier gebündelt.“

Tuhkuri ist durchaus selbstbewusst. „Schon eine einfache Analyse zeigt, dass das Schiff nicht für den Druck durch Packeis ausgestattet war, der es letztlich auch versenkt hat“, betont er. „Die Gefahren durch sich bewegendes Eis, und wie man ein Schiff für solche Bedingungen rüstet, waren bekannt, bevor das Schiff nach Süden fuhr. Da muss man sich schon fragen, warum Shackleton ein Schiff wählte, dass nicht gegen drückendes Eis verstärkt war.“

Die „Endurance“ war ein knapp 44 Meter langer hölzerner Dreimaster mit Dampfmaschine. Ende 1912 wurde sie auf einer Werft im norwegischen Sandefjord fertiggestellt und zunächst auf den Namen „Polaris“ getauft. Ursprünglich sei sie dazu gedacht gewesen, Touristen in die Arktis zu bringen, um dort Eisbären und Walrosse zu jagen, so Tuhkuri.

„Das Schiff war für den Eisrand in der Arktis gebaut“, sagt auch Franz von Bock und Polach, Leiter des Instituts für Konstruktion und Festigkeit von Schiffen der Technischen Hochschule Hamburg. „Diese Struktur hält es aus, Eisschollen zu rammen. Aber in der Antarktis, vom Eis eingeschlossen, da herrschen ganz andere Bedingungen.“

Dass es schon früher durchaus Packeis-feste Schiffe gab, zeigt die legendäre „Fram“: Mit diesem 1892 fertiggestellten, ebenfalls hölzernen Dreimaster hatte sich der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen Ende der 1890er-Jahre im Packeis durch die Arktis treiben lassen. Und 1911/1912 hatte sein Landsmann Roald Amundsen es für jene Antarktis-Expedition genutzt, bei der er als erster Mensch den Südpol erreichte.

Der Unterschied: Die „Fram“ war durch Schrägstreben im Inneren gezielt verstärkt, um dem Eisdruck standzuhalten – die „Endurance“ nicht. Tuhkuri nennt etliche weitere Beispiele von solchen Schiffen aus jener Zeit. Am aussagekräftigsten ist die Bark „Deutschland“. Der Dreimaster wurde 1904 als „Björn“ vom Stapel gelassen, ebenso wie die „Endurance“ in Sandefjord. 1910 wurde er von Wilhelm Filchner, dem Leiter der Zweiten Deutschen Antarktisexpedition, gekauft und in „Deutschland“ umbenannt.

Filchner ließ das knapp 47 Meter lange Walfangschiff in Sandefjord und Hamburg umbauen und gezielt für die Antarktis-Bedingungen verstärken. Dabei wurde er beraten, ausgerechnet von Shackleton. Der riet explizit dazu, Schrägstreben einzubauen, um den Rumpf zu stabilisieren. Und tatsächlich wurde das Schiff im Weddellmeer vom Packeis eingeschlossen. Acht Monate lang driftete es mit dem Eis im Uhrzeigersinn, bevor es freikam und wieder zurücksegelte – ohne größere Schäden erlitten zu haben.

Der entscheidende Unterschied zwischen der „Endurance“ und der „Deutschland“, so Tuhkuri, seien die Schrägstreben gewesen. „Es ist bemerkenswert, dass diese Verstärkung in Einklang mit dem Rat von Shackleton erfolgte“, so der Autor. Die Rückkehr des deutschen Schiffes habe dem Briten bestätigt, dass das Prinzip funktioniere.

„Warum der Rumpf der ‚Endurance‘ nicht ähnlich verstärkt wurde, nachdem Shackleton das Schiff im März 1914 gekauft hatte, ist nicht bekannt“, schreibt er – äußert aber einen Verdacht: Möglicherweise habe es finanzielle Probleme gegeben, großen Zeitdruck, oder beides.

Der damalige Hintergrund: Amundsen hatte im Dezember 1911 als erster Mensch den Südpol erreicht. Das hatte Shackleton bei seiner Nimrod-Expedition 1907 bis 1909 ebenfalls versucht, war aber gescheitert. Mit seinem neuen Projekt – der British Imperial Trans-Antarctic Expedition – wollte er nun mit der „Endurance“ durch das Weddellmeer möglichst weit nach Süden gelangen, um von dort als erster Mensch die Antarktis zum Rossmeer zu durchqueren.

Doch als der Brite seine Expedition im Dezember 1913 für das kommende Jahr ankündigte, hatte er laut Tuhkuri weder ein Schiff noch die finanziellen Mittel für das Vorhaben. Möglicherweise, so deutet der Autor an, fehlte ihm die Zeit für angemessene Vorbereitungen. Shackleton kaufte die „Polaris“ im März 1914 und änderte ihren Namen, die Expedition startete Anfang August in Plymouth – also nicht einmal ein halbes Jahr später.

„Er wusste, wie ein Schiff gegen den Eisdruck angelegt sein musste, und er wusste, dass die ‚Endurance‘ kein solches Schiff war“, schreibt Tuhkuri. „Shackleton kannte die Risiken sehr wohl, entschied aber, es trotzdem zu verwenden.“

Die Wissenschaftshistorikerin Cornelia Lüdecke von der Universität Hamburg hält diese Darstellung für völlig plausibel. „Shackleton hat ein gutes Händchen gehabt im Umgang mit Menschen, aber er war kein guter Expeditionsorganisator“, sagt die Expertin für Polarforschung. „Es ist gut, dass das auch mal dargestellt wird.“

Das Beispiel der deutschen Antarktis-Expedition habe vorher eindeutig die Gefahr einer möglichen Drift im Eis gezeigt. „Shackleton war sich dessen sicher bewusst, er benahm sich wie ein Hasardeur.“

Ähnlich sieht es Lasse Rabenstein vom auf Polarexpeditionen spezialisierten Bremer Unternehmen Drift+Noise, der ebenfalls an der Ortung des „Endurance“-Wracks beteiligt war. Schon auf dem Weg ins Weddellmeer hätten Walfänger in Südgeorgien Shackleton vor den ungewöhnlich schwierigen Eisbedingungen gewarnt – doch die Expedition fuhr weiter. „Es war damals eine Zeit, in der man Rekorde brechen wollte“, sagt Rabenstein. „Sicherheit stand da nicht an erster Stelle.“

Ob eine durch Schrägstreben verstärkte „Endurance“ dem Eisdruck standgehalten hätte, wird man wohl nie wissen. Die Bedingungen seien mit jenen der „Deutschland“, die viel weiter im Osten des Weddellmeers eingeschlossen wurde, nicht vergleichbar, sagt Historikerin Lüdecke.

Wie dem auch sei: Die Durchquerung der Antarktis blieb über Jahrzehnte unerreicht. Erst 1957/1958 gelang sie dem Briten Vivian Fuchs mit Raupenfahrzeugen – und mit maßgeblicher Unterstützung durch den Mount-Everest-Erstbesteiger Edmund Hillary. Shackleton war da längst tot. Er starb 1922 in Südgeorgien, zu Beginn seiner dritten Antarktis-Expedition.

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