Eine Scheibe mit einem Loch in der Mitte – na und? Auf den ersten Blick deutet nichts darauf hin, warum eine simple Folie aus Kunststoff im Fachjournal „Nature“ auch nur Erwähnung findet. Doch befestigt man daran eine Flasche und wirft das Paket aus einer bestimmten Höhe ab, offenbart sich ihre Besonderheit sofort: Die Scheibe ist eine neue Art von Fallschirm.

Das Modell wurde in einem Projekt an der Polytechnique Montréal entwickelt, geleitet von David Mélançon und Frédérick Gosselin, Professoren im Fachbereich Maschinenbau. Dieser Fallschirm besteht aus einer Kunststofffolie, die in einem „Closed Loop“-Muster nach Kirigami-Art zerschnitten wurde.

Das verwendete Muster verleiht der Folie neue mechanische Eigenschaften. Im freien Fall nimmt sie die Form einer umgedrehten, wenn auch luftigen Glocke an, wenn ein Objekt in der Mitte befestigt ist. Die Scheibe entfaltet und öffnet sich – verwandelt sich in ein dreidimensionales grobmaschiges Sicherheitsnetz.

Ein grobmaschiges Sicherheitsnetz

„Die umgekehrte Glockenform dehnt die Schlitze des Kirigami-Musters und zwingt die Luft dazu, durch die zahlreichen kleinen Öffnungen zu strömen“, erklärt Gosselin die Funktion. „Dadurch bleibt der Luftstrom geordnet, ohne große chaotische Wirbel, was zu einer vorhersehbaren Flugbahn führt.“

Unter Kirigami versteht man eine Technik, durch die mechanische Eigenschaften einer Materialfolie verändert werden, indem präzise gefaltet und geschnitten wird. Kinder wenden sie ungeahnt an, um etwa dekorative Schneeflocken aus Papier zu basteln, und Ingenieure haben sie bereits genutzt, um dehnbare Strukturen, flexible medizinische Geräte und entfaltbare Raumstrukturen zu schaffen.

Allerdings wurden Kirigami-Techniken bislang noch nicht auf die Herstellung von Fallschirmen übertragen. Vier Kollegen an der Polytechnique Montréal haben das nun in Zusammenarbeit mit Sophie Ramananarivo, Professorin an der École Polytechnique in Paris, geändert. Das fünfköpfige Team ließ sich dabei auch von Pflanzensamen und Blättern inspirieren, die im Herbst vom Wind verbreitet beziehungsweise verwirbelt werden.

Zunächst untersuchte das Team die Fallbewegung verschiedener Kirigami-Scheiben, im Fokus: der Einfluss des Schnittmusters auf die entfaltete Form und das seitliche Abdriften. Im Windkanal wurde daraufhin experimentell getestet, wie sich die Strukturen entfalten und welchen Luftwiderstand besitzen. Dann entwickelten die Forscher genaue Analyse-Modelle, um die Rekonfiguration geschlossener Kirigami-Scheiben in einem Luftstrom zu programmieren. Schließlich wurden von Kirigami inspirierte Fallschirme in unterschiedlichen Größen, Dicken und Formen gebaut – und deren Flugeigenschaften charakterisiert.

„Ein Vorteil dieses Fallschirms ist, dass er sich schnell stabilisiert und nicht kippt, unabhängig vom Auslösewinkel“, sagt Mélançon, einer von Autoren des Fachartikels, mit dem der kanadische Entwurf jetzt im Journal „Nature“ präsentiert wird. „Und im Gegensatz zu herkömmlichen Fallschirmen folgt er einer strikten ballistischen Sinkflugbahn.“

Das Team der Polytechnique Montréal ist überzeugt davon, dass diese Eigenschaften für eine ganze Reihe von Anwendungen nützlich sein könnten, die von der Paketzustellung in abgelegenen Gebieten bis zur Mars-Erkundung reichen. Ihrer Ansicht nach liegt die wahrscheinlichste und praktischste Anwendung in naher Zukunft in den humanitären Hilfslieferungen von Wasser, Nahrung und Medikamenten. Von Vorteil ist dabei, dass die Produktionskosten für einen solchen Fallschirm relativ gering ausfallen.

Ein weiterer bedeutender Vorteil des Kirigami-Fallschirms ist, dass er mit leicht verfügbaren Materialien und Geräten zu geringen Kosten hergestellt werden kann. „Im Grunde braucht man nur ein Blatt Papier oder Kunststoff und einen Laser oder eine Stanzmaschine“, sagt Mélançon. „Es ist kein Nähen erforderlich und die Montage ist sehr einfach.“

Und es dauert nur wenige Minuten. „Wir haben unsere Fallschirme per Laserschnitt hergestellt, aber eine einfache Stanzmaschine würde ebenfalls ausreichen“, erklärt Mélançon. „Außerdem ist der Fallschirm nahtlos und wird durch eine einzige Aufhängungsleine mit der Nutzlast verbunden, was ihn einfach zu handhaben und einzusetzen macht.“

Die Forscher erprobten ihre Konzepte mithilfe von Simulationen am Computer, Windkanaltests, Abwürfen im Institutsgebäude über einem Ziel und Feldversuchen mithilfe einer Drohne – trotz Abwurf aus bis zu 60 Meter Höhe landete eine Wasserflasche zielsicher. Eine entsprechende Fracht ließe sich also problemlos zustellen, es würde eine meisterhaft zerschnittene, nur wenige Millimeter dicke Scheibe mit einem Radius von 21,5 beziehungsweise 25 Zentimetern genügen.

Abgebremster freier Fall

Die Nutzlast bestand in einer Testreihe aus einer Flasche und einem Beschleunigungsmesser, in anderen Fällen reiste eine GoPro-Kamera mit, was dann eine Last von 654 Gramm ergab – getragen von einem Fallschirm, der selbst 80 Gram wog. Die Ergebnisse deuten dem Team zufolge auf ein erhebliches Potenzial hin, das noch erschlossen werden muss. „Das Verhalten des Fallschirms ändert sich nicht einmal, wenn die Größe des Geräts vergrößert wird“, sagt Frédérick Gosselin. „Dies deutet darauf hin, dass er für größere Anwendungen hochskaliert werden könnte.“

Um die Lieferung von Hilfsgütern zu simulieren, warfen die Forscher eine Wasserflasche – an einer 50 Zentimeter breiten Kirigami-Scheibe – aus 60 Metern ab. Sie traf mit einer berechneten Endgeschwindigkeit von 14,1 Metern pro Sekunde auf. Im ungebremsten freien Fall wären es 34,3 Meter pro Sekunde.

Das Forschungsteam der Polytechnique Montréal arbeitet nun daran, neue Schnittmuster zu entwerfen, um die Fallschirme mit unterschiedlichen und neuen Eigenschaften auszustatten. „Wir wollen die Muster verändern, um noch weiter zu gehen: Die Fallschirme könnten beispielsweise spiralförmig sinken oder gleiten, bevor sie fallen“, erläutert Mélançon.

Sie möchten außerdem die sogenannte Sink-Trajektorie, sprich Flugbahn, je nach Nutzlast variieren können, sodass die Fracht beim Herabsinken sogar sortiert werden könnte. „Dies ist ein völlig neuer Konstruktionsansatz“, sagt Mélançon, „der eine Vielzahl von Möglichkeiten eröffnet.“

In der aktuellen Studie konzentrieren sich Mélançon und Kollegen auf das Closed-Loop-Kirigami-Muster. Doch die Erweiterung des geometrischen Parameterspektrums auf andere Designs – wie asymmetrische, chirale oder hierarchische Muster – könnte es ermöglichen, die gesamte Fall-Trajektorie von Fallschirmen zu programmieren.

Außerdem ließe sich die Endgeschwindigkeit von Kirigami inspirierten Fallschirmen noch verringern: Indem die Schnitte mit einer weichen und hochdehnbaren Membran abgedeckt werden, so das Forscherteam, um die Auswirkungen der Porosität zu begrenzen.

Nicht zu vergessen: Origami, daran erinnern die Forscher am Ende ihres Artikels. Diese traditionelle und kunstvolle Falttechnik könnte ihrer Meinung nach genutzt werden, um den Kirigami-Fallschirm platzsparend zusammenzufalten.

Seit mehr als 25 Jahren verfolgt Sonja Kastilan als Wissenschaftsjournalistin ein breites Themenspektrum aus Medizin und Lebenswissenschaften. Sie ist fasziniert von der Idee, dass sich Medikamente womöglich bald per Drohne und Kirigami-Fallschirm in entlegene Gebiete liefern lassen.

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