Am späten Nachmittag des 8. Juli 1951 wird Axel Wittmann – damals noch ein Kind – Zeuge eines eindrücklichen Phänomens. Mit anderen Mitgliedern seiner Familie beobachtet er in Neustadt bei Coburg durch ein Erdgeschossfenster zur Straße hin ein Gewitter. Plötzlich senkt sich auf der anderen Straßenseite eine leuchtende, orange-gelbe Plasmakugel von oben auf einen Lindenbaum herab – so beschreibt es der Göttinger Astrophysiker Jahre später.
Beim Berühren der Äste in etwa neun Metern Höhe zerfällt die rund 60 Zentimeter große Kugel in etwa zwölf kleinere Kugeln, die weiter absinken und schließlich auf dem Asphalt der Straße geräuschlos zerplatzen. Wenige Minuten später wiederholt sich der Vorgang, der etwa sechs Sekunden dauert, auf die gleiche Weise.
Als der mit dem Gewitter einhergehende prasselnde Regen nach etwa 20 Minuten aufhört, inspiziert der damalige Junge das Areal, wo die kleinen Kugeln zerplatzt sind. An mehreren Stellen von zwölf bis 15 Zentimetern Durchmesser, was etwa der Größe der Kugeln entsprach, ist das im Asphalt enthaltene Bitumen geschmolzen – die Temperatur muss also mindestens 170 Grad erreicht haben.
Jahre später berechnete der Physiker unter Berücksichtigung der Schmelztemperatur von Bitumen die Energiedichte der kleinen Kugeln auf 19 Millionen Joule pro Kubikmeter. Die Schilderung und seine Berechnung veröffentlichte Wittmann 1971 im Fachmagazin „Nature“ als Beleg für Kugelblitze – ein Phänomen, dessen Existenz unter Wissenschaftlern bis heute umstritten ist und das sich physikalisch nur schwer erklären lässt.
So besagen manche Erkläransätze, dass die Wahrnehmung von Kugelblitzen lediglich auf einer optischen Täuschung beruhe, ausgelöst durch den elektromagnetischen Impuls des Blitzes auf das Gehirn oder die Augennetzhaut.
Wittmann hat etwa 500 Artikel zu Kugelblitzen gesammelt. Auch er glaubt, dass manche Berichte auf Sinnestäuschungen basieren. So kann etwa ein Meteor für einen Kugelblitz gehalten werden. Oder ein mit Foto- oder Videokamera aufgenommenes Objekt entpuppt sich als Spiegelung einer kugelförmigen Lampe in einer Fensterscheibe. Selbst eine Aufnahme der Sonne, die durch ein Schlüsselloch scheint, oder ein unscharfes Bild des Vollmonds haben eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Kugelblitz.
„Bei vielen Fotos vermeintlicher Kugelblitze handelt es sich um künstliche Lichtquellen, etwa Feuerwerk oder Straßenlaternen, oder auch um Linsen- oder Staubreflexe in der Kameraoptik, die Orbs genannt werden“, erläutert Wittmann. Mitunter gebe es auch bewusste Fälschungen. Dennoch geht er davon aus, dass zumindest einige Aufnahmen tatsächlich einen Kugelblitz zeigen.
Dem Phänomen auf der Spur
Doch solche Beobachtungen sind sehr selten. Nur einer von 10.000 Menschen sehe in seinem Leben einen Kugelblitz, schrieb Wittmann 2010 im Vorwort zur Neuauflage des Buchs „Der Kugelblitz“ von Walther Brand aus dem Jahr 1923. Anhand von Augenzeugenberichten verfasste Wittmann 1976 eine Art Steckbrief zu dem Phänomen. Dazu gehören unter anderem eine gleichförmige oder irreguläre Bewegung, mitunter auch ein Stillstehen des Kugelblitzes.
Und Wittmann hat eine Vermutung, woher 1951 die beiden großen Kugelblitze kamen: aus einem 34 Meter hohen Schornstein, der ein Stück hinter dem Lindenbaum stand. Es gibt zahlreiche Schilderungen, denen zufolge Kugelblitze aus Kaminen oder Herden kommen.
Der Mainzer Physiker Herbert Boerner hat eine Erklärung für diese bisher unverstandene Beobachtung: Damit Kugelblitze entstehen können, müssen sich seiner Meinung nach zuvor Wolken sogenannter freier Elektronen bilden – das sind Elektronen deren Energie so hoch ist, dass sie sich von ihren Atomen gelöst haben und die nun frei herumschwirren. Bei der Verbrennung von fossilen Brennstoffen, also Kohlenwasserstoffen, könnten genau solche Gase entstehen, die viele freie Elektronen enthalten. In seinem 2022 veröffentlichten Buch „Der Kugelblitz“ gleicht er verschiedene Theorien über Kugelblitze mit deren beobachteten Eigenschaften ab.
Ein Ereignis hat Boerners Blick auf das Phänomen stark geprägt: Am Nachmittag des 14. Januar 1994 zog ein Wintergewitter über Neuruppin, nordwestlich von Berlin gelegen, hinweg, aus dem mit einem enorm lauten Donner ein gleißender Blitz schoss. Damals leitete Donald Bäcker, der heute Wettervorhersagen in der ARD moderiert, die Neuruppiner Wetterstation.
Dort riefen nach dem Ereignis einige Leute an, und Bäcker sammelte ihre Aussagen zu diesem außergewöhnlichen Blitz. Außerdem stellte er eine Anfrage in der lokalen Zeitung, um weitere Berichte zu erhalten. Zu seiner Überraschung erhielt er insgesamt 34 Schilderungen, die nicht nur Aussagen zu dem Blitz enthielten, sondern auch zu Kugelblitzen.
Gesichtet wurden zwei große Kugelblitze über dem See und über den Dächern – und mehrere kleine an oder in Häusern in einem mehrere Quadratkilometer großen Gebiet. Bei dem heftigen Blitz, der laut dem Blitzortungssystem BLIDS etwa fünf Kilometer von Neuruppin entfernt im Wald eingeschlagen war, entstanden demnach mindestens elf verschiedene Kugelblitze. Bei dem Blitz floss ein ungewöhnlich starker Strom von bis zu 370.000 Ampère. Und besonders wichtig: Es handelte sich laut BLIDS um einen positiv geladenen Blitz.
„Nur etwa zehn Prozent aller Blitze sind positiv geladen, und von denen sind nur wenige so stark wie der Blitz in Neuruppin“, erklärt Boerner. Üblicherweise sammeln sich die positiven Ladungen im oberen Teil der Gewitterwolke, die negativen eher unten. Da letztere entsprechend einen kürzeren Weg zur Erdoberfläche haben, sind die meisten Wolke-Erde-Blitze, die also am Boden einschlagen, negativ geladen.
Elektronen-Wolken als Blitzfänger
Der Salzburger Meteorologe Alexander Keul hat in Österreich 58 Fälle von Kugelblitz-Sichtungen von 1993 bis 2023 mit Daten des österreichischen Blitzortungssystems Aldis abgeglichen. Ergebnis: Etwa die Hälfte der Blitze, die höchstwahrscheinlich im Zusammenhang mit Kugelblitzen standen, waren positive Blitze. Und zehn von ihnen erreichten mehr als 100.000 Ampère.
Dabei machen positive Blitze nur etwa zehn Prozent aller Wolke-Erde-Blitze aus, positive Blitze mit mehr als 100.000 Ampere würden sogar nur 0,5 Prozent aller Blitze ausmachen. „Es gibt jetzt handfeste Beweise, dass Kugelblitze mit seltenen Ereignissen, nämlich starken positiven Blitzen, korrelieren“, betont Boerner. Zwei seltene Ereignisse also, die häufig zusammen auftreten – Boerner bezeichnet diese Zahlen deshalb als „Game-Changer“.
Seiner Auffassung nach könnte sich ein typisches Kugelblitz-Ereignis so abspielen: Ein niedergehender positiver Blitz sorgt am Boden in Sekundenbruchteilen für eine starke elektrische Entladung in der Luft. Dadurch entsteht in Bodennähe eine Wolke freier Elektronen. Alternativ kann eine solche Elektronenwolke auch – wie bei Wittmanns Erlebnis 1951 – aus der Verbrennung von Kohlenwasserstoffen resultieren.
Diese Elektronen wirken wie eine Antenne, mit der sie den starken elektromagnetischen Impuls eines weiteren, nahenden Blitzes empfangen und so Energie gewinnen. Die beschleunigten Elektronen emittieren dann elektromagnetische Strahlung, die zur Entstehung von Kugelblitzen führt. So kommt es vermutlich zu jener kugelförmigen elektromagnetischen Struktur, die für diese Art von Blitzen typisch ist. Lediglich diese Hypothese könne die, Boerner zufolge, gut belegte Beobachtung erklären, dass Kugelblitze sich durch Glasscheiben bewegen können, ohne sich sichtbar zu verändern.
„Es ist alles konsistent, und ich hoffe, dass dies in Experimenten verifiziert werden kann“, sagt Boerner, der auch schon Vorschläge für experimentelle Aufbauten präsentiert hat. Allerdings – so seine Erfahrung – wollen sich viele Physiker nicht mit dem Thema befassen. Denn vielfach werde immer noch die Meinung vertreten, es gebe keine Kugelblitze.
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