In Aschaffenburg tötet ein Mann zwei Menschen mit einem Messer. Am Hamburger Hauptbahnhof sticht eine Frau auf zahlreiche Menschen ein. In München verletzt ein Mann mit einem Messer zwei Männer am Oberkörper. Immer wieder kommt es in Deutschland zu schweren Gewalttaten durch psychisch kranke Menschen. Und immer wieder stellt sich die Frage: Hätten die Taten verhindert werden können?

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hat nun ein ausführliches Positionspapier mit Empfehlungen zur Gewaltprävention bei psychisch kranken Menschen veröffentlicht. Eine der Kernforderungen der Experten: Die rechtliche Möglichkeit, Betroffene mit erkennbarem Gewaltpotenzial auch gegen ihren Willen in einer Psychiatrie zu behalten oder neu einzuweisen, müsse häufiger genutzt werden.

„Die Autonomie der Menschen ist ein hohes und schützenswertes Gut“, sagt Psychiaterin und DGPPN-Präsidentin Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank. Es müsse aber immer wieder zwischen der individuellen Autonomie und der Sicherheit der Gemeinschaft abgewogen werden. „Ich habe den Eindruck, dass wir uns in den letzten Jahren sehr weit auf die Seite der Autonomie gestellt haben, und damit vermutlich höhere Risiken in Kauf genommen haben.“

Wenn ein akutes Gefährdungspotenzial nach einer Behandlung nicht mehr eindeutig nachgewiesen werden könne, würden potenzielle Gefährder zum Teil relativ schnell wieder aus der Psychiatrie entlassen, erklärte Gouzoulis-Mayfrank. Das passiere zum Teil auch, wenn sich der Zustand bisher nicht ausreichend stabilisiert habe. „Wenn eine Person rasch entlassen und die Behandlung nicht weitergeführt wird, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass die Person bald wieder in einen akuten Krankheitszustand gerät.“

Die 39-jährige Frau, die Ende Mai auf dem Hamburger Hauptbahnhof 18 Menschen mit einem Messer verletzte, war erst tags zuvor aus einer psychiatrischen Klinik in Niedersachsen entlassen worden und bereits zuvor durch Gewalttaten aufgefallen.

Die DGPPN fordert zudem, Patientinnen und Patienten häufiger gegen Auflagen zu entlassen. Das können etwa eine regelmäßige medizinische Behandlung oder Drogenabstinenz sein. Wenn ein Patient dagegen verstößt, wird geprüft, ob er wieder eingewiesen wird. Diese Möglichkeit sollte zumindest bei Fällen mit wiederholten aggressiven Vorfällen genutzt werden, heißt es in dem DGPPN-Positionspapier. Aber: „Das gehört zu den Möglichkeiten, die derzeit kaum genutzt werden“, sagt Gouzoulis-Mayfrank.

Die überwiegende Mehrheit der Menschen mit psychischen Erkrankungen ist laut DGPPN nicht gewalttätig. Für bestimmte Erkrankungen gibt es den Expertinnen und Experten zufolge aber ein statistisch erhöhtes Risiko, Gewalttaten zu begehen. Eindeutig gesichert sei dies für Schizophrenien und andere Psychosen, Drogenabhängigkeit und schweren Persönlichkeitsstörungen. „Aber wir können nicht mit Sicherheit vorhersagen, wer von diesen Menschen tatsächlich eine Straftat begeht“, erklärt Gouzoulis-Mayfrank.

Zuletzt wurde deshalb auf politischer Ebene darüber diskutiert, Sicherheitsbehörden stärker einzubringen und etwa ein Register für Gefährder und Straftäter mit psychischen Erkrankungen zu erstellen.

Die DGPPN lehnt das in ihrem Positionspapier entschieden ab. Gewalttätiges Verhalten im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung ließe sich durch eine polizeiliche Ansprache oder Überwachung nicht beeinflussen.

„Das beste Mittel ist Therapie“

Außerdem würde eine Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht zur Erfassung von potenziell gefährlichen Personen das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient massiv beeinträchtigen. Sie könnte dazu führen, dass Betroffene aus Angst vor einer Meldung an die Behörden mit den Behandelnden nicht offen über ihre Gedanken und ihr Erleben sprächen. Im schlimmsten Fall nähmen sie gar keine psychiatrische Behandlung mehr in Anspruch. Die DGPPN schreibt: „Das beste Mittel der Gewaltprävention ist Therapie.“

Die Versorgung sei allerdings nicht ausreichend und müsse insbesondere im ambulanten Bereich ausgebaut werden, sagt Gouzoulis-Mayfrank. „Die Behandlung, die in der Regelversorgung angeboten wird, ist für schwer erkrankte Menschen nicht intensiv genug und dadurch verliert man die Menschen.“

Eine Psychotherapie mit wöchentlichen Sitzungen sei für diese Patienten nicht angemessen. „Sie brauchen eine umfassendere, viel komplexere Behandlung.“ Dazu gehörten neben psychotherapeutischen Elementen etwa auch eine Behandlung mit Medikamenten und die Unterstützung durch Sozialdienste oder Pflegekräfte.

Um das konsequenter umzusetzen, braucht es der Psychiaterin zufolge neue Finanzierungsmodelle, die es etwa Kliniken ermöglichen, die Behandlung flexibler zu gestalten – vor allem auch außerhalb der Einrichtungen. „Es kann und darf keine Lösung sein, die Menschen ewig in der Klinik zu behalten – oder sie als sogenannte Drehtürpatienten immer wiederzusehen.“

Auch sogenannte Präventionsambulanzen, wie es sie in Bayern gibt, sollte es flächendeckend geben. Die Präventionsambulanzen richten sich an psychisch kranke Menschen mit erhöhtem Aggressions- und Gewaltpotenzial, die ein Rückfallrisiko haben. Neben der regulären ambulanten Behandlung bekommen Patienten dort eine intensive Betreuung nach sozialpsychiatrischen Ansätzen wie etwa Hilfe bei der Wohnungssuche, bei Verschuldung oder insgesamt im Lebensumfeld.

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