Israel weitet seine Angriffe gegen die Hamas im Gazastreifen aus, die Rückkehr zu einer Waffenruhe ist derzeit unwahrscheinlich. Der Schweizer Botschafter Simon Geissbühler schätzt ein – aus Tel Aviv.
SRF News: Israels Armee hat Berichte über einen Angriff auf ein Spitalgebäude im Norden des Gazastreifens bestätigt. Wie beurteilen Sie diesen Einsatz?
Simon Geissbühler: Grundsätzlich ist es nicht zulässig, Spitäler zu bombardieren. Wenn sich jedoch tatsächlich ein Hamas-Kommandoposten innerhalb dieser Klinik befand, hat die israelische Armee das Recht, eine Evakuierung zu verlangen.
Für die Schweiz ist der Zugang von humanitärer Hilfe nach Gaza eine Priorität.
Ob Israel in diesem konkreten Fall im Recht ist, kann ich nicht beurteilen. Bei der Bewertung solcher komplexen Situationen sollte man generell Zurückhaltung üben und vorschnelle Urteile vermeiden.
Seit sechs Wochen darf keine humanitäre Hilfe mehr nach Gaza. Was unternimmt die Schweiz?
Für die Schweiz ist der Zugang von humanitärer Hilfe nach Gaza eine Priorität. Wir versuchen über alle möglichen Kanäle, auf Israel einzuwirken, damit dieser Zugang wieder gewährleistet wird. Denn letztlich geht es hier um das Schicksal der Zivilbevölkerung.
Der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 hat vieles verändert. Wie geht es der israelischen Bevölkerung?
Ich glaube, dass ausserhalb Israels oft unterschätzt wird, was der 7. Oktober für die Gesellschaft bedeutet hat. Das war ein tiefer Einschnitt, ein Trauma. Jeder Staat hat die Aufgabe, seine Bevölkerung zu schützen – am 7. Oktober ist dieses Sicherheitsgefühl in sich zusammengebrochen.
Ich führe regelmässig Gespräche mit Angehörigen von Geiseln. Es ist wichtig, dass ich ihre Realität wahrnehme.
Das hat sehr tiefe Wunden hinterlassen, die sich auch im Verhalten des Landes spiegeln. Das nehme ich hier sehr deutlich wahr.
Was tun Sie als Botschafter für die verschleppten israelischen Geiseln?
Ich führe regelmässig Gespräche mit Angehörigen von Geiseln. Diese Begegnungen sind wichtig. Es ist zentral, dass ich als Botschafter ihre Realität wahrnehme. Einige Familien haben mich auch mit konkreten Anliegen kontaktiert, die ich weitergeleitet habe. Über Inhalte kann ich aus verständlichen Gründen nichts sagen. Aber klar ist: Wenn man seit Monaten enge Angehörige in Gaza vermisst, ist das eine enorme Belastung – für die Betroffenen und für die gesamte Gesellschaft.
In der Schweiz war die Solidarität mit Israel anfangs gross, später wuchs die Kritik. Wie nehmen Sie das wahr?
In der Schweiz herrscht Meinungsäusserungsfreiheit – Kritik an Israel ist erlaubt. Wünschenswert wäre, dass sie auf soliden Informationen beruht, nicht auf verzerrten Bildern oder Stereotypen. Ich selbst will Israel verstehen, das bedeutet aber nicht, dass ich immer Verständnis haben muss.
Um 6:30 Uhr im Schutzraum, eine halbe Stunde später sitzt mein Sohn im Schulbus – das ist Realität hier.
Meine Aufgabe ist es, das Geschehen mit kritischer Distanz zu beobachten, objektiv zu berichten und in Bern darzulegen, was hier passiert, welche Positionen Israel vertritt und was das für die Schweiz bedeutet.
Sie sind letzten Sommer mit Ihrer Familie nach Israel gezogen – mitten im Krieg. Wie war der Start?
Ich war früher Kunst- und Turmspringer auf Spitzensportniveau. Ich glaube, das hat mich ein Stück weit stress- und angstresistent gemacht. Wir haben keine Angst. Am Morgen eines Raketenalarms standen wir um 6:30 Uhr im Schutzraum – eine halbe Stunde später sass mein Sohn im Schulbus. Das ist die Realität hier.
Das Gespräch führte David Karasek.
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