Was haben Volkswagen und Audi mit der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu gemeinsam? Mit „Sabah!“, dem Hausblatt des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan? Und warum ruft die türkische Opposition zum Boykott dieser Autobauer auf?

Eine direkte Verbindung gibt es nicht. Und die Opposition hat auch kein Problem mit VW und Audi – aber umso mehr mit ihrem türkischen Vertriebspartner: der Automobilsparte von Dogus. Dieser Mischkonzern, eines der größten Unternehmen der Türkei, ist auch in anderen Branchen tätig: Finanzen, Bau, Tourismus – und Medien.

Über die Fernsehsender der Dogus-Gruppe aber, allen voran den Nachrichtenkanal NTV, ist die Opposition ebenso verärgert wie über alle regierungsnahen Medien, die wenig bis gar nicht über die Proteste berichten.

So eifrig diese Sender sonst jede Rede von Staatspräsident Erdogan in voller Länge übertragen, so beflissen ignorieren sie die Proteste, die seit der Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoglu Mitte März anhalten.

Besonders zum Gespött machte sich der Nachrichtensender Habertürk: Als sich am vorigen Wochenende mehrere hunderttausend – nach Angaben der Veranstalter sogar 2,2 Millionen Menschen – zu einer Kundgebung im anatolischen Teil Istanbuls versammelten, sendete Habertürk Backrezepte. Die Antwort der Opposition: Boykott.

„Wenn die uns nicht sehen wollen, werden wir die auch nicht mehr sehen“, rief Özgür Özel, Chef der oppositionellen CHP, der auch Imamoglu angehört, der jubelnden Menge zu. Und genau darum, wegen ihrer Verbindungen zur Dogus-Gruppe, sind auch Volkswagen und die VW-Tochtergesellschaften Audi und Skoda auf der Boykottliste der Opposition gelandet – als einzige ausländische unter 36 Marken, größtenteils stehen darauf Medien und mit ihnen verbandelte Unternehmen.

VW: „Beobachten Entwicklungen genau“

Die Regierung reagiert wütend: Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen „Volksverhetzung“, ein Dutzend Personen, darunter der bekannte Schauspieler Cem Yiğit Üzümoglu, wurden festgenommen, weil sie Boykottaufrufe geteilt hatten.

Zudem werfen sich Parteigänger und Propagandisten, die im vergangenen Jahr noch wegen „Unterstützung des Zionismus“ zum Boykott der Kaffeehauskette Starbucks aufgerufen hatten, gegen die Boykottkampagne der Opposition ins Zeug, darunter der ehemalige deutsche Nationalspieler Mesut Özil: „Schaden wir unseren lokalen und nationalen Marken nicht unter dem Deckmantel eines Boykotts“, schrieb er auf X. Den Reaktionen nach zu urteilen, hat die Opposition mit ihrer Kampagne einen Nerv getroffen.

Die größten Sorgen gelten bei VW und Audi derzeit sicher den von US-Präsident Donald Trump verhängten Zöllen. Doch auch der Boykottaufruf ist in Wolfsburg und Ingolstadt angekommen: „Die jüngsten Entwicklungen innerhalb der türkischen Republik beobachten wir genau“, sagte ein VW-Sprecher gegenüber WELT.

„Wir hoffen, dass die berechtigten Interessen der gesamten Bevölkerung in der aktuell angespannten politischen Situation Berücksichtigung finden werden.“

Direkt in der Türkei vertreten ist Volkswagen nur durch die Lkw-Tochter MAN; in dem 1966 errichteten MAN-Werk in Ankara sind rund 1800 Beschäftigte tätig. Vor einigen Jahren plante VW, eine Autofabrik in der westtürkischen Industriestadt Manisa zu bauen – zur Freude Erdogans, der dringend auf ausländische Direktinvestitionen angewiesen ist.

Doch 2020 nahm VW davon Abstand, wobei neben wirtschaftlichen Aspekten auch politische Bedenken – allen voran von Belegschaftsvertreten im Aufsichtsrat – eine Rolle spielten.

Sprechen VW und Dogus über den Boykott?

Ist der Boykottaufruf der Opposition ein Thema zwischen VW und Dogus? Dazu will man sich bei VW nicht öffentlich äußern. Angesichts der vielen Nachfragen von Medien, Partnern und Kunden und des drohenden Imageschadens wäre es jedoch verwunderlich, wenn man nicht darüber reden würde – mit welchem Ausgang auch immer.

Dabei ist es nicht weit hergeholt, wenn die Opposition Dogus und NTV in einen direkten Zusammenhang bringt. Auch mit autonomen Redaktionsentscheidungen hat die geringe Beachtung der Proteste nichts tun.

NTV ist vielmehr symptomatisch für den Niedergang vieler, staatlicher wie privatwirtschaftlicher Einrichtungen im Land: NTV nahm 1996 als erster türkischer Nachrichtensender den Betrieb auf und erwarb sich mit seriösem Journalismus einen guten Ruf, an dem sich auch nach der Übernahme durch die Dogus-Gruppe zunächst nichts änderte.

Doch etwa ab 2010 ging die Regierung dazu über, Sendern und Zeitungen immer deutlichere Vorgaben zu machen, worüber sie auf welche Weise berichten sollen – und worüber nicht. Dem staatlichen Fernsehen sowieso, aber auch den Sendern und Zeitungen, deren Eigentümer enge geschäftliche Verbindungen zum türkischen Staat unterhalten.

Dies wurde bei den Gezi-Protesten vom Frühjahr 2013 deutlich, als diese Medien ähnlich wie heute versuchten, die Demonstrationen zu verschweigen. Damals versammelten sich in einer Mittagspause einige tausend Angestellte der umliegenden Firmen und Banken vor der NTV-Zentrale in einem Istanbuler Geschäftsviertel.

Tags darauf trat der NTV-Chef Cem Aydin vor seine Mitarbeiter und entschuldigte sich für die Vorgabe, die Proteste zu ignorieren. Man werde wieder zum Journalismus zurückkehren, versprach er.

Doch daraus wurde nichts. Nach der Niederschlagung der Proteste kündigte Aydin bei NTV, so wie dort und in anderen Häusern hunderte kritische Journalisten entlassen wurden oder von selbst gingen. Heute bringt ein Sender wie NTV nichts, was der Erdogan-Regierung nicht passt.

Die Macht der Verbraucher

Genau an dieser Stelle versucht die Opposition nun anzusetzen und die Konzerne die Macht der Verbraucher spüren zu lassen. So betrachtet ergibt es Sinn, auch ausländische Unternehmen in die Boykottkampagne einzubeziehen.

Zwar ist es nicht die Aufgabe eines deutschen Konzerns, politische Vorgänge in einem anderen Land zu bewerten. Doch die Verhaftung von Erdogans wichtigstem Widersacher wirft einmal mehr die Frage auf, wie es um die Rechtsstaatlichkeit der Türkei bestellt ist. Und das kann keinem Unternehmen egal sein.

Dazu schreiben VW und Audi auf eine WELT-Anfrage gleichlautend: „Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist für uns eine wichtige Grundlage für wirtschaftliche Planungssicherheit und unternehmerischen Erfolg. In diesem Sinne kommt dem türkischen Rechtsstaat auch in der aktuellen Situation eine besonders große Verantwortung zu.“

„Berechtigten Interessen der gesamten Bevölkerung“, „Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit“ – das klingt verklausuliert, gar ausweichend, ist aber deutlicher als alles, was man von deutschen Unternehmen in solchen Fällen sonst zu hören bekommt.

Nur der türkischen Opposition dürfte das nicht reichen. Am Donnerstag legte CHP-Chef Özel nach: Ein Großteil der Fahrzeugflotte in den von der seiner Partei geführten Kommunalverwaltungen bestehe aus VW-Fahrzeugen. Diese werde man künftig nicht mehr kaufen.

Und er werde einen Brief nach Wolfsburg schreiben. „Volkswagen ist ein demokratisch geführter Betrieb, die Beschäftigten sind an der Konzernleitung beteiligt. Wechselt euren türkischen Vertriebspartner!“

Deniz Yücel ist WELT-Korrespondent und ehrenamtlich neben Thea Dorn Sprecher der Autorenvereinigung PEN Berlin.

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