Die Beschwichtigungsversuche sind gescheitert: Anfang November hatten sich die EU-Umweltminister darauf geeinigt, die Einführung des neuen Europäischen Emissionshandels (ETS 2) um ein Jahr zu verschieben: Die CO₂-Abgabe auf die fossilen Brenn- und Kraftstoffe Heizöl, Erdgas und Benzin soll nun erst ab 2028 erhoben werden. Damit wollte der EU-Ministerrat den Sorgen osteuropäischer Mitgliedstaaten Rechnung tragen, dass die Klima-Abgabe zu untragbar hohen Energierechnungen für die Verbraucher führen könnte.
Diese Sorgen bestehen jedoch fort: In einem sogenannten „Nonpaper“, also einem inoffiziellen Dokument, fordern Tschechien, die Slowakei und Ungarn jetzt eine weitere Verschiebung der CO₂-Abgabe auf „mindestens 2030“. Das Papier liegt WELT vor. „Ein grüneres Europa braucht auch den Wohlstand seiner Bevölkerung“, heißt es darin. Die Verschiebung des CO₂-Preises um ein Jahr und die gewährten Erleichterungen im Preismechanismus seien „unzureichend.“
Der ETS 2 „stellt einen weiteren Schlag für die ohnehin schon fragile Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union dar, gerade in einer Zeit, in der die europäische Industrie um ihre Wettbewerbsfähigkeit kämpft und die Haushaltsausgaben steigen“, heißt es in dem Schreiben der drei Staaten. „Bezahlbare Energie und Mobilität sind die Eckpfeiler einer gerechten Energiewende, während der ETS 2 die Situation der Bürgerinnen und Bürger, insbesondere von gefährdeten Gruppen und der ländlichen Bevölkerung, weiter verschärft.“
Prag sucht Verbündete – und findet sie
Bei einem „Nonpaper“ handelt es sich um ein informelles Diskussionspapier, das zumeist ohne Unterschrift und Datum verteilt wird. In diesem Fall wurde das Papier zum Umweltministerrat am Dienstag als „gemeinsame Position“ der drei genannten Staaten in Umlauf gebracht. Eine offizielle Bestätigung der Absender gab es auf Nachfrage von WELT zwar nicht. Doch dass es sich bei den Forderungen nur um einen „Versuchsballon“ interessierter Kreise handelt, ist angesichts jüngster Äußerungen aus Prag unwahrscheinlich.
So hatte die neue tschechische Regierung nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters auf ihrer ersten Kabinettssitzung am Dienstag den geplanten Emissionshandel offen abgelehnt. Die Regierung von Ministerpräsident Andrej Babis begründete den Schritt mit der Sorge vor steigenden Energiepreisen für die Haushalte und einer Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. „Wir werden diese Bestimmung der EU-Richtlinie nicht weiter umsetzen“, sagte Babis. Seine am Montag angetretene Regierung werde nach Verbündeten in der EU suchen, um den Plan zu kippen.
Offenbar hat Babis die Verbündeten bereits gefunden. Mit der Ablehnung der europäischen Klimaschutz-Strategie riskiert die Regierung in Prag zwar ein Vertragsverletzungsverfahren, Geldstrafen sowie den möglichen Verlust von EU-Mitteln, so Reuters.
Allerdings bilde Babis‘ populistische Partei ANO eine Koalition mit der rechten, EU-feindlichen Partei SPD und der Partei der Autofahrer, die sich gegen die EU-Klimapolitik richtet. Babis hatte schon vor seinem Amtsantritt angekündigt, sich der Einführung einer EU-Abgabe auf fossile Brennstoffe zu widersetzen.
Die Einführung einer CO₂-Abgabe auf fossile Kraft- und Brennstoffe betrifft Osteuropäer überdurchschnittlich stark. Denn zum einen ist das Lohnniveau hier geringer. Zum anderen sind fossile Energieträger auch noch weiter verbreitet als im Westen. In einigen Ländern wie zum Beispiel auch Polen heizen auch noch Millionen Haushalte mit Kohle. Sollten sich nun weitere osteuropäische Staaten der Drohung Tschechiens anschließen und die CO₂-Bepreisung schlicht nicht umsetzen, droht der Kollaps der gesamten europäischen Klimaschutzstrategie.
Gerade erst hatte sich die Europäische Union als neues Zwischenziel eine Verringerung der CO₂-Emissionen um 90 Prozent bis 2040 gesetzt. Heizung und Verkehr sind allerdings die Sektoren mit dem größten Energieverbrauch und dem größten CO₂-Ausstoß. Beide Bereiche hinken im Klimaschutz ohnehin weit hinterher. Verzögern sich hier jetzt auch noch die Preissignale des Emissionshandels auf das Jahr 2030 oder noch später, ist das EU-Klimaversprechen, bis 2050 völlig klimaneutral zu sein, nicht mehr zu schaffen.
Mit ihrer Strategie, durch ständig steigende Ambitionen bei den jährlichen Weltklimakonferenzen der Vereinten Nationen als „Vorreiter“ aufzutrumpfen, rast die Europäische Union jetzt auf eine Wand zu: Versagen mehrere Mitgliedstaaten die Umsetzung der Beschlüsse aufgrund mangelnder Zahlungsbereitschaft oder Zahlungsfähigkeit, implodiert das Ziel der Kommission, Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Ein Scheitern der Europäer dürfte Klimaschutz-Ambitionen weltweit aufweichen.
Setzen die Osteuropäer eine Verschiebung der CO₂-Abgabe auf 2030 oder später durch, profitieren deutsche Verbraucher davon nicht. Hierzulande wurde eine Klima-Abgabe auf Benzin und Heizstoffe bereits 2021 mit dem „Brennstoffemissionshandelgesetz“ (BEHG) als nationale Maßnahme eingeführt.
Ursprünglich sollte dieser rein deutsche CO₂-Preis ab 2027 im europaweiten Emissionshandel aufgehen. Verschiebt der Rest Europas nun jedoch den Emissionshandel 2 immer weiter in die Zukunft, bleiben deutsche Haushalte, Gewerbe- und Industriebetriebe über Jahre weiterhin die Einzigen, die die CO₂-Abgabe zahlen.
„Risiko, Wettbewerbsfähigkeit Europas zu untergraben“
Gemessen am Wortlaut des „Nonpapers“ scheinen Tschechien, die Slowakei und Ungarn entschlossen, es so weit kommen zu lassen. „Die Einführung des ETS 2 birgt das Risiko, die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu untergraben, die Energie- und Treibstoffkosten in die Höhe zu treiben und Haushalte sowie kleine Unternehmen unverhältnismäßig zu belasten“, heißt es in dem Papier: „Dies könnte zu einem geringeren verfügbaren Einkommen und einer geringeren Kaufkraft, steigenden Betriebskosten und letztlich zu Preisdruck führen.“ Dies wiederum könne „eine sinkende Binnennachfrage und eine verminderte Investitionsfähigkeit zur Folge haben, insbesondere in Mitgliedstaaten mit niedrigerem durchschnittlichem Einkommensniveau.“
Die EU-Kommission hatte bereits Ideen entwickelt, einen plötzlichen Anstieg der Benzin- und Heizölpreis bei Einführung des ETS 2 zu verhindern: Unter anderem sollten in begrenztem Maße zusätzliche handelbare Emissionsberechtigungen in den Markt gegeben werden, wenn der CO2-Preis zu schnell und zu stark steigt.
Auch sollte ein europäischer „Sozialfonds“ Gelder bereitstellen, um besonders betroffene Gruppen, etwa Berufspendler, für steigenden Benzinpreise zu entschädigen. Die Osteuropäer glauben freilich nicht, dass die Gelder ausreichen oder überhaupt fließen: „Der Soziale Klimafonds (SCF) allein kann nicht als umfassende Lösung für all diese Herausforderungen angesehen werden“, heißt es im Papier: „Der SCF deckt nicht die gesamten Kosten, die durch den ETS 2 für Bürger und Unternehmen entstehen, und ist gemäß der geltenden Gesetzgebung nur bis 2032 operativ.“
„Der Kompromiss zur Verschiebung des ETS 2 ab 2028 ist kein Erfolg, denn schon nach wenigen Wochen hält er dem politischen Realitätscheck nicht mehr Stand“, stellt der Chef der Berliner Denkfabrik EPICO, Bernd Weber fest: „Eine Öffnung der ETS-Richtlinie, wie es osteuropäische Länder jetzt fordern, würde die Büchse der Pandora öffnen und damit das Leitinstrument für marktwirtschaftlichen Klimaschutz beerdigen.“
Weber sieht vor allem eine Möglichkeit, den ETS 2 noch zu retten: Das auf mehrere Jahre festgelegte Budget an handelbaren CO₂-Berechtigungen müsse neu aufgeteilt werden. Nach der Strategie des sogenannten „Frontloading“ müsse ein größerer Teil der Zertifikate bereits in den Anfangsjahren des neuen Emissionshandels versteigert werden: Die Kosten der CO₂-Abgabe würden dann bei den Verbrauchern zunächst nur gering spürbar. Einen Verbraucheraufstand durch schlagartig steigenden Benzinpreise bräuchten die Regierungen damit nicht zu fürchten.
Mit Fortschreiten von Techniken wie der E-Mobilität und moderner Heiztechnik könne die CO₂-Ersparnis in späteren Jahren leichter erbracht werden, argumentiert der EPICO-Chef. „Frontloading“ sei „die Lebensversicherung für den Start von ETS 2 ab 2028“, sagte Weber WELT: „Ohne jetzt Einnahmen für Investitionen und Entlastung für Haushalte verfügbar zu machen, droht der ETS 2 auseinanderzufallen.“
Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und „Business Insider Deutschland“ erstellt.
Daniel Wetzel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet über Energiewirtschaft und Klimapolitik. Er wurde 2007 vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI) mit dem Robert-Mayer-Preis ausgezeichnet und vom Energiewirtschaftlichen Institut an der Universität Köln 2009 mit dem Theodor-Wessels-Preis.
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