Kanzler Merz will der existenzbedrohten Stahlindustrie entschlossen unter die Arme greifen. Doch das Maßnahmenpaket zeigt laut Ökonom Kaczmarczyk: Eine umfassende industriepolitische Strategie ist nicht zu erkennen. Hinzu kommt, dass vieles auf EU-Ebene entschieden wird.

Gestiegene Energiepreise, Billigimporte aus China, hohe US-Importzölle und hohe Kosten für den Umbau hin zu einer klimafreundlicheren Stahlproduktion: Die deutsche Stahlindustrie strauchelt. Im Kanzleramt hat Regierungschef Friedrich Merz mit Vertretern von Industrieunternehmen, Gewerkschaften sowie einer Reihe von Ministerpräsidenten der Bundesländer deswegen über die Zukunft Tausender Arbeitsplätze und die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland gesprochen.

Viel Zeit hat Merz seinen Gästen dabei allerdings nicht eingeräumt. Lediglich knapp 90 Minuten waren zunächst für das Treffen angesetzt. Doch der Gesprächsbedarf schien groß. Merz, Wirtschaftsminister Lars Klingbeil, der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, Gunnar Goebler, und Jürgen Kerner von der IG Metall traten mit knapp 30 Minuten Verspätung vor die Presse.

Merz nannte den Austausch eine "sehr konstruktive und im Ergebnis vollkommen übereinstimmende Diskussion einschließlich der Schlussfolgerungen, die daraus zu ziehen sind". Er dankte den Arbeitnehmervertretern außerdem ausdrücklich für ihre emotionalen Beiträge. "Das sind hier keine abstrakten volkswirtschaftlichen Zahlen, über die wir sprechen, sondern wir sprechen hier über das Schicksal einer Schlüsselindustrie."

Zeiten offener Märkte "leider vorbei"

Unter den Beteiligten herrscht Einigkeit: Die deutsche Stahlindustrie steckt in einer existenzbedrohenden Krise. Die Branche braucht laut Merz deswegen einen wirksamen Außenhandelsschutz gegen Preisdumping und Überkapazität. Angesichts von Zöllen der USA und Billig-Stahl aus Asien "müssen wir unsere Märkte und unsere Hersteller schützen", sagte Merz.

Nötig sei außerdem eine Senkung der Energiepreise. "Ohne eine wirksame Absenkung der Strompreise ist diese Industrie nicht lebensfähig", sagte Merz. Er verwies auf die Absicht der Bundesregierung, zum 1. Januar 2026 für drei Jahre einen staatlich subventionierten, niedrigeren Industriestrompreis einzuführen. Darüber werde seit Monaten mit Brüssel verhandelt. "Wir gehen davon aus, dass wir bald auch Klarheit haben, ob dieser Industriestrompreis genehmigt werden kann. Die Aussichten sind gut."

Darüber hinaus hat sich Merz für eine Bevorzugung von heimischen Herstellern von Stahl ausgesprochen. Er habe sich stets für offene Märkte und fairen Wettbewerb eingesetzt, führte Merz aus. Doch spätestens mit den von den USA verhängten Zöllen hätten sich die Gegebenheiten geändert. Die Zeiten offener Märkte und fairen Handels "sind leider vorbei". Er werde sich nun bei der EU dafür einsetzen, dass dies ermöglicht wird. Bei protektionistischen Maßnahmen wie der Bevorzugung eigener Unternehmen, die in Europa zum Beispiel von Frankreich häufig vorgeschlagen wurden, hatte sich die Bundesregierung lange skeptisch gezeigt.

Die Stahlindustrie spielt eine zentrale Rolle beim Erhalt des europäischen Wirtschaftsstandorts. In Deutschland hat das Wertschöpfungsnetzwerk Stahl laut der Unternehmensberatung Oliver Wyman einen Anteil von 23 Prozent an der Gesamtwirtschaft. "Die Branche steht am Scheidepunkt. Nur wenn wir planbare Rahmenbedingungen, günstige Energiepreise und Wettbewerbsfähigkeit sicherstellen können, kann die deutsche Stahlindustrie bestehen", sagt Nils Naujok, Stahlfachmann bei Oliver Wyman, auf Anfrage von ntv.de.

"Ohne staatliche Eingriffe keine Grundstoffindustrie"

Die Erwartungen an den Stahlgipfel waren dementsprechend hoch. Ökonom Patrick Kaczmarczyk von der Universität Mannheim attestiert den Beteiligten auf Anfrage von ntv.de: "Die Bundesregierung scheint langsam zu begreifen, dass es ohne staatliche Eingriffe perspektivisch keine Grundstoffindustrie mehr geben wird." Dass sich die Diskussionen um Handelsschutz, Energiepreise, Förderungen und Leitmärkte drehten, überrascht ihn nicht.

Gleichzeitig gibt Kaczmarczyk zu bedenken, dass es bis zur Umsetzung konkreter Maßnahmen noch ein weiter Weg sei. Der Stahldialog habe nur eine Anreihung von Absichtsbekundungen geliefert. "Eine umfassende industriepolitische Strategie - eine Industriepolitik mit Plan - fehlt weiterhin. Dabei bräuchte es zunächst mehr Klarheit über die Perspektive für den deutschen und europäischen Standort, woraus sich in der Folge die Instrumente ableiten müssten", sagt er.

Auch Kerner von der IG-Metall hatte sich im Vorfeld klare Signale von dem Stahlgipfel erhofft. "Die Stahlindustrie ist in den letzten 20 Jahren bereits in einer schwierigen Situation gewesen. Jetzt ist es lebensbedrohlich. Wir müssen den Patienten von der Intensivstation wieder in die normale Reha bringen", sagt er im Gespräch mit ntv. ThyssenKrupp steckt momentan mitten in einer Restrukturierung und baut Tausende Stellen ab. Der Druck ist durch Energiepreise, Nachfrageflaute und Billigimporte laut Kerner immens.

Wenn die deutsche Stahlindustrie erhalten bleiben soll, müsse jetzt gehandelt werden. Ohne eine Begrenzung der Überkapazität aus China "könnten wir umsonst in Deutschland arbeiten und wir wären trotzdem nicht konkurrenzfähig". Darüber hinaus hält Kerner einen Industriestrompreis von fünf Cent pro Kilowattstunde für ein wichtiges Instrument. Die Begrenzung auf drei Jahre sieht er dabei kritisch. "Das ist zu wenig. Wir brauchen mehr Planungssicherheit. In Frankreich gibt es Verträge über zehn Jahre für den Industriestrompreis. So etwas Ähnliches brauchen wir auch in Deutschland."

Gelingt der Umstieg auf grünen Stahl?

Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, sieht derweil nicht nur die Politik in der Pflicht. Auch die Unternehmen selbst müssten effizienter und innovativer werden und beispielsweise in grüne Stahlproduktion investieren. "Zur Wahrheit dazu gehört auch, dass Unternehmen ins Risiko gehen und neue Technologien voranbringen müssen", sagt Fratzscher bei ntv. Unabhängig davon ist er sich sicher: "Wir werden unweigerlich eine weitere Konsolidierung der Stahlsparte in Europa und auch in Deutschland sehen."

Seiner Einschätzung zufolge wird es unweigerlich zu einem Stellenabbau in der Branche kommen. "Wichtig ist aber, dass die Produktion weiter in Europa stattfinden kann. Denn gerade für die Automobilbranche ist die Stahlproduktion wichtig." Die entscheidende Frage für die Branche ist laut Fratzscher: Gelingt der Stahlindustrie der Umstieg auf grünen Stahl? Dieser Schritt sei nicht nur eine Herausforderung, weil er technologisch schwierig ist, sondern auch, weil er sehr viel Energie benötigt.

Bereits jetzt investieren Unternehmen laut der Wirtschaftsvereinigung Stahl massiv in die Transformation und die Zukunftsfähigkeit der Branche. "Wir übernehmen Verantwortung - ökonomisch, ökologisch und sozial", sagte Verbandschef Groebler laut einer Mitteilung. Damit Stahlproduzenten ein profitables Geschäftsmodell mit den Klimazielen in Einklang bringen können, rät Naujok: "Die Dekarbonisierung muss möglichst flexibel gestaltet werden. Unternehmen sollten alle verfügbaren Technologien und Ansätze in Betracht ziehen. Hier sind das Recycling von Stahlschrott, die Abscheidung und Speicherung von CO2 oder auch die flexible Beschaffung von Roheisen und Rohstoffen zu nennen."

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