Die Nacht war düster und kalt. Dennoch zog es am Silvesterabend des Jahres 1879 unzählige Menschen aus New York hinaus in die kleine Siedlung Menlo Park in New Jersey. Zeitungen hatten von einem Spektakel berichtet, von einem gewissen Thomas Alva Edison, der dort etwas Weltbewegendes zeigen wolle. Und dann, plötzlich: Licht. Kein flackerndes Gaslicht, kein rußender Docht, sondern ein klarer, heller Schein.

Edisons Glühbirne entzündete nicht nur ein neues Leuchtmittel, sie entfachte eine Vision. Eine Lichtquelle, die kühl blieb, sicher war und sich per Knopfdruck steuern ließ – ein Wunder. Für die Anwesenden war es ein magischer Moment. Für die Welt war es der Beginn eines neuen Zeitalters – des Zeitalters der Elektrizität.

Zwar war elektrischer Strom schon vorher bekannt und wurde auch hie und da genutzt. Doch erst jetzt begann er, seine transformative Kraft zu entfalten. Die Wirtschaft sollte sich in den folgenden Jahrzehnten dramatisch verändern. Mit der Elektrizität kamen ungeahnte Produktivitätsschübe, und diese katapultierten Gesellschaften in neue Sphären des Wohlstands.

Ein ganz ähnlicher Moment wie am Silvesterabend 1879 ereignete sich am 30. November 2022. Damals präsentierten die Entwickler von OpenAI ihre Künstliche Intelligenz namens ChatGPT. Wieder war die Technologie nicht neu, aber ihre Wirkung plötzlich greifbar. Menschen erlebten in Echtzeit, wie Maschinen Sprache verstehen, Texte formulieren, kreativ und hilfreich sein konnten.

Seither scheint es plausibel, dass künstliche Intelligenz Wirtschaft und Gesellschaft in ähnlicher Weise verändern und prägen wird, wie dies einst die Elektrizität tat. Allerdings bleibt eines bislang weitgehend aus: Der Produktivitätsschub, den die Elektrizität auslöste. Im Gegenteil, das Produktivitätswachstum ging in den vergangenen Jahren eher zurück.

Verläuft diese technische Revolution also anders? Geht sie an der Wirtschaft größtenteils vorbei? Schafft sie daher auch keinen zusätzlichen Wohlstand? Auch wenn die Antworten heute schwer vorherzusagen sind, so gibt der Vergleich mit der Geschichte der Elektrifizierung doch Hinweise. Denn auch damals dauerte es lange, bis es zu einem Produktivitätsschub kam, weit länger, als die meisten ahnen.

Denn damit die Elektrizität ihr Potenzial voll entfalten und die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigen konnte, bedurfte es zunächst der kompletten Neuausrichtung von Strukturen und Prozessen, sowie enormer Investitionen. Das dürfte in unseren Tagen bei der KI ähnlich sein. Die Geschichte lehrt aber auch, was Staat und Unternehmen tun können, um diese Entwicklung zu beschleunigen.

Sowohl die Elektrizität als auch die Künstliche Intelligenz sind sogenannte Querschnitttechnologien. So werden Erfindungen bezeichnet, die nicht nur in einem kleinen Bereich angewendet werden können, sondern über weite Teile der Wirtschaft hinweg. Dadurch haben sie das Potenzial, diese zu revolutionieren. Der Computer und das Internet sind Beispiele aus der jüngeren Geschichte, die Elektrizität ist eines aus der älteren.

Die naturwissenschaftlichen Gesetze rund um die Elektrizität wurden bereits seit dem 18. Jahrhundert erforscht, der Name Michael Faraday ist in diesem Zusammenhang vielen ein Begriff. Seit den 1830er-Jahren wurde Elektrizität auch zunehmend im Alltag eingesetzt, beispielsweise für die Telegrafie. Batterien wurden entwickelt, die Stromerzeugung mit elektrischen Maschinen wurde möglich und 1866 baute Werner von Siemens den ersten Dynamo.

Die Umwälzung der Wirtschaft ließ auf sich warten

Und dennoch wurden all diese Erfindungen in jenen Jahren nur in einigen Nischen genutzt. Ein großer Produktivitätsschub war durch die Elektrizität nicht erfolgt, die Revolution der Wirtschaft durch Elektrizität schien in weiter Ferne. „Die Umgestaltung industrieller Prozesse durch die neue Stromtechnologie war ein langwieriger Prozess und alles andere als ein automatischer Vorgang“, fasste der Wirtschaftshistoriker Paul David jene Phase zusammen.

Warum das so war, hat der Wissenschafts- und Technikhistoriker Thomas P. Hughes in seinem Buch „Networks of Power“ ausführlich dargelegt. So dauerte es lange, bis Tüftler die ersten konkreten Anwendungen für die neue Kraft fanden. Die erste Erfindung, die auf Elektrizität beruhte und Wirtschaft und Gesellschaft durchdrang, war die Glühbirne von Edison. In den Jahren danach machte die elektrische Beleuchtung ihren Siegeszug um die Welt, ein entsprechender Markt entstand. Aber ein wesentlicher Produktivitätsschub für die Wirtschaft ergab sich auch daraus noch nicht.

Dazu kam es erst, als die Elektrizität in den Fabriken Einzug hielt – und das dauerte wesentlich länger und war weitaus komplexer. Denn viele Fabrikbesitzer hatten in den Jahrzehnten davor bereits hohe Investitionen in Dampfmaschinen und Transmissionsriemen getätigt. Sie waren daher zurückhaltend gegenüber einem neuerlichen Systemwechsel und führten oft die angebliche Unsicherheit der elektrischen Kraftübertragung ins Feld.

Dass diese sich schließlich doch durchsetzte, lag daran, dass Elektrizität den Einsatz von Einzelmotoren direkt an den Maschinen ermöglichte, zentrale Wellenantriebe waren nicht mehr notwendig und die Anordnung der Maschinen in der Fabrik war daher flexibler. Das machte radikal neue Produktionsformen möglich, wie die Fließbandproduktion, die Henry Ford 1913 zur Herstellung des Modells T einführte – über 30 Jahre, nachdem Edison die Glühbirne präsentiert hatte und fast 90 Jahre, nachdem es erste Anwendungen für die Elektrizität gegeben hatte.

Erst jetzt, mit dieser neuen Form der Produktion, die die Möglichkeiten der Elektrifizierung voll nutzte, waren riesige Produktivitätssprünge möglich. Und erst jetzt führte dies zu einer Durchdringung der gesamten Wirtschaft durch die Elektrizität innerhalb weniger Jahre. Es hatte also zunächst einer kompletten Neuerfindung der Produktionsprozesse bedurft, eines komplexen Systemwandels. Erst dann konnte die Elektrizität die Wirtschaft revolutionieren.

Darin sehen Wirtschaftshistoriker durchaus ein Prinzip, das auch für andere Querschnitttechnologien gilt. „Es dauert in der Regel einige Zeit, bis eine Querschnitttechnologie einen wesentlichen Einfluss auf die Produktivität hat“, stellte der Ökonom Nicholas Crafts fest, der sich vor allem mit der Industriellen Revolution befasste. „Die Technologie verbessert sich, ergänzende Investitionen und Innovationen werden getätigt, Unternehmen werden neu organisiert und Lernerfahrungen entstehen.“

Es braucht komplett neue Strukturen

Solange eine neue Querschnitttechnologie nur im Rahmen der alten Strukturen genutzt wird, ist ihre Wirksamkeit begrenzt. Erst wenn neue Strukturen geschaffen werden, in denen sie sich voll entfalten kann, kommt es zu Produktivitätssprüngen. Und dieses Prinzip sei auch heute wirksam, so Crafts. „Es ist durchaus plausibel, dass dies auch die Erfahrung mit KI sein wird.“

Ähnlich sehen das die Ökonomen Erik Brynjolfsson, Daniel Rock und Chad Syverson, die sich in einer Studie ebenfalls mit der Frage befasst haben, warum die neuen Technologien bisher kaum zu Produktivitätsfortschritten geführt haben. „Die bereits demonstrierten Durchbrüche der KI-Technologien wirken sich noch nicht sonderlich auf die Wirtschaft aus, versprechen aber größere Auswirkungen, sobald sie sich verbreiten“ schreiben sie. Denn die bisherigen Erfindungen seien nur die Basis für weitere Innovationen und Investitionen.

„Sowohl die KI-Investitionen als auch die ergänzenden Veränderungen sind kostspielig, schwer messbar und zeitaufwändig in der Umsetzung.“ Und der Erfolg komme keinesfalls automatisch. „Es erfordert Anstrengungen und Unternehmergeist, um die notwendigen Fortschritte zu entwickeln, und Anpassungsfähigkeit auf individueller, organisatorischer und gesellschaftlicher Ebene, um die damit verbundenen Umstrukturierungen zu bewältigen.“

Aber noch etwas ist erforderlich, wie die Geschichte der Elektrifizierung zeigt: Ein Staat, der dies begünstigt. David P. Hughes hat nämlich auch gezeigt, dass der Aufbau von elektrischen Netzwerken durch Stadtwerke und mithilfe von zentralen Kraftwerken ein entscheidender Hebel war, um die Elektrifizierung der Wirtschaft voranzubringen.

Fabriken konnten dadurch einfach und günstig an die externe Stromversorgung angeschlossen werden und mussten keinen eigenen Strom erzeugen. Das reduzierte die Einstiegshürden entscheidend, sorgte für eine rasche Verbreitung der neuen Produktionsformen und erzeugte den folgenden Produktivitätsschub.

In ähnlicher Weise sind heute schnelle Datennetze eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die künstliche Intelligenz breit angewendet werden kann. Ebenso braucht es Kapital, vor allem auch Wagniskapital, um neue Anwendungen einzuführen und anzuwenden.

Fast noch wichtiger dürfte heute jedoch Bildung sein: Denn so wie in den Fabriken letztlich die Arbeiter, die die elektrisch betriebenen Maschinen bedienten, entscheidend für den Erfolg waren, so sind es heute die Anwender der KI-Werkzeuge in den Unternehmen, in Universitäten und Behörden. Für die Arbeiter jener Zeiten reichte es jedoch, wenn sie kurz angelernt und eingewiesen wurden. Wer KI-Agenten und -Modelle effektiv nutzen soll, muss dagegen ein Verständnis dafür haben, was diese können, und was nicht.

Wenn all diese Voraussetzungen erfüllt sind, könnte auch die KI die Produktivität in der Wirtschaft entscheidend befördern und somit den Wohlstand unserer Gesellschaften auf ein neues Niveau heben. Ob das mehr als drei Jahrzehnte dauert, wie von der Präsentation der Glühlampe Ende 1879 bis zur Einführung der Fließbandproduktion 1913, wird sich zeigen.

Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und Business Insider erstellt.

Frank Stocker ist Wirtschafts- und Finanzkorrespondent in Frankfurt. Er berichtet über Geldanlage, Finanzmärkte, Konjunktur und Zinspolitik. Zudem hat er Bücher zur Inflation von 1923 und zur Geschichte der D-Mark veröffentlicht.

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