Der Bau ist nicht zu verfehlen. Er war nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine hastig errichtet worden, am Rande eines vernachlässigten Parks in Prag, fleischfarben im postsozialistischen Stil. KACPU hatte hier ihren Sitz, die Anlaufstelle für ukrainische Flüchtlinge. Doch irgendwann passte das Gebäude nicht mehr zur Realität, in den Warteräumen blieben viele Sitze leer. Das Zentrum war zu groß geworden für den nachlassenden Bedarf. 

Gemessen an der Bevölkerung hat Tschechien nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine mehr ukrainische Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land in der EU. Allein in Prag ist die Bevölkerungszahl durch die Neuankömmlinge aus der Ukraine zeitweise um zehn Prozent gewachsen.

Das Land scheint diese Herausforderung jedoch mit Bravour gemeistert zu haben: Der überwiegende Teil der arbeitsfähigen Neuankömmlinge hat einen Arbeitsplatz gefunden, wohnt in regulären Mietwohnungen und die Kinder gehen zur Schule. Der Integrationserfolg ist allerdings nur ein Etappensieg.

Von 1,2 Millionen Ukrainern bekommen 720.000 Bürgergeld

Gerade aus deutscher Sicht lohnt derzeit ein Blick nach Tschechien. Im vierten Kriegsjahr ist der Ton hierzulande gegenüber den Geflüchteten rauer geworden. Die deutsche Regierung will Neuankömmlingen das Bürgergeld streichen, die CSU will sogar, dass alle Geflüchteten nur noch die Leistungen für Asylbewerber bekommen. Getrieben wird die Debatte von der schleppenden Integration: Von den 1,2 Millionen Geflüchteten hierzulande bekamen im Juli rund 720.000 Bürgergeld, darunter waren 200.000 Kinder.

Solche Rhetorik war in Tschechien erst im Wahlkampf lauter geworden. Anfang Oktober wählten die Bürger ein neues Parlament, und Populisten kritisierten auch dort die Hilfen. Gleichwohl rangierte das Thema unter ferner liefen – die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten und die Energiepolitik waren weit wichtigere Punkte für die Wähler. Generell gilt die Integration als großer Erfolg.

Wie gut die Geflüchteten im europäischen Vergleich in der Gesellschaft angekommen sind, zeigen aktuelle Zahlen. Bis Mitte September hat die Tschechische Republik rund 734.000 Geflüchteten den speziellen Schutzstatus der EU zugestanden, zuletzt lebten rund 394.000 Geflüchtete in Tschechien. Nur in Deutschland und Polen leben zuletzt mehr Geflüchtete aus der Ukraine.

Laut UNHCR, dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, machten die Geflüchteten im Juni dieses Jahres 3,45 Prozent der tschechischen Bevölkerung aus. Nur in Moldau ist der Wert mit gut fünf Prozent noch höher. Zum Vergleich: In Polen liegt der Anteil bei 2,63 Prozent und in Deutschland bei 1,44 Prozent.

70 Prozent der Ukraine-Flüchtlinge sind fest angestellt

Entsprechend groß war die Herausforderung – aber Tschechien hat sie gemeistert. Laut einer regelmäßig durchgeführten Umfrage, aktuell vom Meinungsforschungsinstitut CVVM, gingen zuletzt sieben von zehn Flüchtlingen einer bezahlten Tätigkeit nach, ganz überwiegend fest angestellt. Lediglich elf Prozent waren arbeitslos gemeldet. Andere Geflüchtete waren in Mutterschutz oder Elternzeit, studierten oder waren bereits in Rente.

Immer mehr Geflüchtete leben in Tschechien zudem in regulären Mietwohnungen: Lediglich zehn Prozent wohnen noch in Sammelunterkünften, vor allem Hotels und Pensionen. 91 Prozent der Befragten zahlten die Unterkunft vollständig selbst. Die engmaschige Statistik zu dem Thema, in dieser Form einzigartig, zeigt, wie ernst Tschechien die Integration der Neuankömmlinge nimmt.

Die Studien helfen auch, den Integrationserfolg zu erklären. Als ein Erfolgsfaktor gilt die sprachliche Nähe: Tschechisch ist Ukrainisch weit näher als etwa die deutsche Sprache. Rund zwei Drittel geben denn auch in Umfragen an, sich in Alltags-Situationen verständigen und Texte lesen zu können. Diese Fähigkeit entspricht hierzulande dem Sprachen-Niveau B1 oder höher.

Schon vor Ausbruch des Krieges arbeiteten viele Ukrainer in Tschechien, vor allem in großen Städten wie Prag und Brno. Damals waren es vor allem Männer, zuletzt kamen überwiegend Frauen und Kinder in das Land. „Es gab bereits Netzwerke, Wissen über den tschechischen Arbeitsmarkt, und in der tschechischen Wirtschaft Wissen über die Fertigkeiten von Ukrainern“, sagt Thomas Liebig, Migrationsexperte bei der OECD.

Zudem hatten die Neuankömmlinge wegen des Schutzstatus sofort Anspruch auf Ärzte, Kindergärten, Schulen, Sozialwohnungen, und sie hatten vollen Zugang zum Arbeitsmarkt. „Das war entscheidend für die Integration“, sagt Kateřina Ženková, Juniorprofessorin an der Universität Ostrava (Ostrau). „Sie konnten sehr schnell Arbeit aufnehmen.“

Allerdings war auch der Druck sehr hoch: Das Bürgergeld beträgt in Tschechien rund 5000 Kronen, das entspricht gut 200 Euro. Und das bei Lebenshaltungskosten, die ähnlich hoch sind wie in Deutschland. „5000 Kronen ist nicht sehr großzügig“, sagt Professorin Ženková. „Mit Sozialleistungen kommen Betroffene über die Runden, aber um ein besseres Leben führen zu können, müssen sie arbeiten.“ Die geringe Unterstützung sei Ausdruck einer gewissen Grundhaltung, sagt Michal Plaček, Professor an der Karls-Universität Prag: „Wer in der Tschechischen Republik leben will, muss sich das verdienen, muss der Gesellschaft nützen und muss arbeiten. Das ist die herrschende Wahrnehmung.“

Und der Arbeitsmarkt hat die Neuankömmlinge dankbar aufgenommen. Die tschechische Gesellschaft altert schnell. In den vergangenen Jahren sind geburtenstarke Jahrgänge in Rente gegangen und der Arbeitsmarkt war 2023 praktisch leer gefegt. Seit Jahren gehört die Arbeitslosigkeit zu den niedrigsten in der EU. Im Juni lag sie laut Eurostat bei lediglich 2,8 Prozent, im Jahr 2022 sogar nur bei 2,22 Prozent.

Die Geflüchteten arbeiten auf Baustellen, in Fabriken und in der Pflege. Allerdings haben viele Jobs angenommen, die schlecht bezahlt, prekär und unter ihrer Qualifikation sind. Obwohl die Neuankömmlinge überdurchschnittlich gut gebildet sind und ein großer Teil von ihnen in der Ukraine in qualifizierten Positionen gearbeitet hat, konnten sie in Tschechien keine vergleichbaren Positionen finden. Die Forscher des CVVMN haben festgestellt, dass die Gehälter in Tschechien kaum mit der Qualifikation korrelieren.

In der Umfrage klagt denn auch ein Fünftel der Ukrainer über schwierige Arbeitsbedingungen, und 61 Prozent glauben, dass ihre Arbeit unterbezahlt sei. Die meisten Flüchtlingshaushalte haben ein deutlich niedrigeres Einkommen als der tschechische Durchschnitt. „Die Tschechische Republik hat in der Notlage sehr gut und sehr schnell reagiert“, sagt der Prager Professor Plaček. „Aber die große Herausforderung ist jetzt, die Geflüchteten sinnvoll in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sodass es ihrer Bildung entspricht und sie ihr Potenzial voll entfalten.“ Aktuell arbeiteten gut ausgebildete Menschen als Putzkräfte, das sei keine Lösung.

Nur jeder Fünfte will zurück in die Ukraine

Tatsächlich muss die Regierung in Prag jetzt die Weichen dafür stellen, dass ein erheblicher Anteil der Geflüchteten länger oder für immer in Tschechien bleibt. „Kurzfristiger Schutz wird allmählich zu langfristiger Integration“, sagt Professorin Ženková. Umfragen belegen: Je länger der Konflikt dauert, desto eher wollen die Betroffenen bleiben. Die Mehrheit der Geflüchteten will definitiv nicht in die Ukraine zurück oder denkt darüber nach, in Tschechien oder einem anderen EU-Land zu bleiben. Nur jeder Fünfte gibt in Umfragen an, in den kommenden Jahren definitiv in die Ukraine zurückkehren zu wollen – es sind besonders die Älteren, Arbeitslosen und Geflüchteten, die schlecht Tschechisch sprechen.

Auch in den Schulen müssen Politik und Verwaltung langfristiger agieren. Ukrainische Kinder scheinen zunächst gut integriert: Fast alle Kinder im Alter von sieben bis 15 Jahren besuchen eine tschechische Grundschule und nur zwei Prozent lernen ausschließlich online in ukrainischen Schulen. In den Abschlussklassen werden die Patchwork-Biografien allerdings deutlicher: Dort gehen nur 85 Prozent der Jugendlichen in eine tschechische Schule und 13 Prozent lernten im November 2024 ausschließlich über Online-Angebote aus der Ukraine. „Diverse Studien zeigen, dass ukrainische Kinder nicht voll in das tschechische Schulsystem integriert sind“, sagt Sozialwissenschaftler Plaček „Häufig fehlen Förderangebote und viele hängen beim Tschechisch-Lernen hinterher.“

Eine kürzlich veröffentlichte Rechnung illustriert das Potenzial einer besseren Integration, vor allem in den Arbeitsmarkt. Demnach hat die Regierung im ersten Quartal dieses Jahres 3,8 Milliarden Kronen für die Unterstützung der Geflüchteten ausgegeben. Die Einnahmen aus deren Zahlungen an Fiskus und Sozialversicherungen lagen mit 6,9 Milliarden Kronen jedoch höher. Die Rechnung, veröffentlicht im Wahlkampf, um Kritik an den Flüchtlingshilfen zu kontern, lässt erahnen, was es der Volkswirtschaft brächte, wenn Geflüchtete Jobs hätten, die ihrer Qualifikation entsprechen.

Hierzulande galt von Anfang an ein anderer Ansatz „Deutschland wollte nicht möglichst viele Geflüchtete möglichst schnell in irgendeine Beschäftigung bringen, sondern ihre Fähigkeiten langfristig besser nutzen und sie in Jobs bringen, die zu ihrer Qualifikation passen“, sagt OECD-Experte Liebig. Dementsprechend seien sie zuerst in Sprach- und Qualifikationskurse geschickt worden. „Der Preis für die höhere Qualität ist eine niedrigere Beschäftigungsquote.“

Im Juli waren hierzulande 347.000 Geflüchtete beschäftigt, immerhin 81.000 mehr als vor einem Jahr. Dass aber weiter die große Mehrheit ohne Arbeit ist, liegt aus Sicht von Experten auch daran, dass viele erst später nach Deutschland gekommen sind als in die direkten Nachbarländer. Häufig sind sie offenbar erst nach einiger Zeit weitergezogen. „Es gibt Hinweise darauf, dass vor allem diejenigen, die in den Erstempfangsländern weniger gut integriert waren, nach Deutschland weitergezogen sind“, sagt OECD-Experte Liebig. Die Erfahrung hierzulande zeigt auch, dass nachhaltige Integration langen Atem erfordert. Während der Jugoslawienkriege kamen rund 700.000 Menschen nach Deutschland. Experten gehen davon aus, dass ungefähr die Hälfte geblieben ist.

Auch die Stadt Prag stellt sich darauf ein, dass es nicht mehr nur um die Notfallversorgung geht. Das KAPCU-Zentrum ist inzwischen geschlossen. Unweit des alten Standorts hat ein neues aufgemacht: Es ist kleiner, aber die modernen Räume signalisieren, dass die Einrichtung noch eine Weile gebraucht wird.

Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und „Business Insider Deutschland“ erstellt.

Tobias Kaiser schreibt als Korrespondent für europäische Wirtschaft über den Standortwettbewerb auf dem Kontinent und berichtet vor Ort über Entwicklungen und deren Folgen für Deutschland.

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