Die größte Zementfabrik in Norddeutschland ökologisch so zu entschärfen, dass sie keine Belastung für das Klima mehr darstellt, das dauert ungefähr eine Stunde lang – in einem fachlich präzisen Vortrag. Die Manager Florian Kleinwächter und Peter Ansorge-Sautner sitzen in einem Konferenzraum in der Deutschlandzentrale des Schweizer Baumaterialkonzerns Holcim in Eimsbüttel. Bei ihrer Präsentation zeigen sie eines der aktuell wichtigsten Vorhaben für die Herstellung von Zement weltweit. Das Werk von Holcim in Lägerdorf gut 60 Kilometer nordwestlich von Hamburg soll mit einer Anlage nachgerüstet werden, die das Kohlendioxid (CO₂) aus dem Rauchgas abtrennt und die es dann für den Abtransport aus dem Werk verflüssigt. Künftig soll das Kohlendioxid genutzt werden, um Chemikalien, synthetische Kraftstoffe oder Baumaterial herzustellen. Was dann noch übrigbleibt, wird an Land oder auf See dauerhaft unter der Erde eingelagert.
Draußen jenseits des Konferenzraums braucht dieses Großprojekt jahrelang Zeit, und es hat sich bereits um Jahre verzögert. Das liegt nicht an der Technologie des sogenannten „Carbon Capture and Storage“ (CCS), der Entsorgung des Kohlenstoffs, englisch „carbon“. Es liegt in erster Linie daran, dass Gesellschaft und Politik in Deutschland jahrzehntelang kein Interesse an diesem längst etablierten Verfahren hatten. Nun jedoch will die Bundesregierung ein entsprechendes Gesetz auf den Weg bringen. „Der Entwurf des Bundes zum Kohlenstofftransport- und Speichergesetz ist die notwendige rechtliche Grundlage zum Umgang mit CO₂ in Deutschland“, sagt Kleinwächter, Senior Business Development Manager CCUS bei Holcim Deutschland. „Darüber hinaus brauchen Unternehmen mit unvermeidbaren CO₂-Emissionen wie Holcim zwingend auch eine staatliche Carbon-Management-Strategie, die darüber hinausgeht. Sie muss regeln, wie Kohlendioxid als Übergangslösung gespeichert oder langfristig in Nutzungsszenarien gebracht werden kann.“ Ein staatlicher Regulierungsrahmen sei schon deshalb nötig, weil „CO₂-frei“ hergestellter Zement zunächst deutlich teuer sein werde als konventionelle Ware. Das müsse in einem übergeordneten Emissionssystem berücksichtigt werden.
Der globale Klimaschutz kommt nicht schnell genug voran, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens von 2015 zu erreichen. Das wird vor der nächsten Klimakonferenz „COP30“ wieder einmal deutlich, die im November im brasilianischen Belém stattfindet. Auch in Deutschland ist in den vergangenen Jahren der politische Druck gestiegen, die unterirdische Speicherung (CCS) oder die Wiederverwendung (CCU) von Kohlendioxid zu ermöglichen. Der Volksentscheid von Anfang Oktober in Hamburg, wonach die Hansestadt bereits 2040 „klimaneutral“ sein soll – fünf Jahre früher als bislang geplant – erzwingt noch zusätzlich den Einsatz einer solchen Technologie. „CCS ist kein Ersatz für umfassenden Klimaschutz, aber ein notwendiges Instrument, um verbleibende unvermeidbare Emissionen zu adressieren und die Klimaziele zu erreichen“, teilt Hamburgs Umweltbehörde auf Anfrage mit. „In Hamburg erarbeiten derzeit die Umweltbehörde gemeinsam mit der Wirtschaftsbehörde eine eigene Carbon-Management-Strategie. Der Fokus soll dabei auf unvermeidbaren CO₂-Emissionen liegen, da die Vermeidung von Treibhausgasen grundsätzlich Vorrang vor der CO₂-Abscheidung hat.“
Die unterirdische Speicherung von Kohlenstoff wird außerhalb Deutschlands seit Jahrzehnten praktiziert – in anderen Ländern gab es weniger oder keinen politischen Widerstand dagegen. Die Öl- und Gasindustrie in Norwegen nutzt Kohlendioxid, das bei der Förderung der fossilen Energien aus Offshore-Lagerstätten im Meer entsteht – die Unternehmen injizieren das CO₂ zurück in die Förderstätten, um mit dem zusätzlich entstehenden Druck die Ausbeute an Erdöl und Erdgas zu erhöhen. In den USA setzt unter anderem die chemische Industrie CCS ein, um Kohlenstoff aus Erdgas abzutrennen und so Wasserstoff zu gewinnen.
In Deutschland war eine Nutzung von CCS oder CCU lange Zeit verpönt. In der reinen Lehre der „Energiewende“ ging es vor allem darum, die Emissionen klimarelevanter Gase durch mehr Effizienz und mithilfe erneuerbarer Energien zu minimieren. Doch längst ist klar, dass ein Teil der Treibhausgase noch auf lange Sicht nicht vermeidbar sein wird – für die Zementindustrie gilt das ebenso wie für die Müllverbrennung oder auch in der Metallherstellung, etwa im Hamburger Stahlwerk von ArcelorMittal oder in der Kupferhütte von Aurubis. Auch die Grünen, die neben den Umweltverbänden lange Zeit strikt gegen die Nutzung von CCS und CCU standen, haben ihre Position verändert. „Die letzten Prozente bei der Reduktion von Treibhausgasen in Richtung null Emissionen erreichen wir nur mit CCS und CCU“, sagt Hamburgs Umweltsenatorin und Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank.
Der Zementindustrie werden weltweit bis zu acht Prozent aller von Menschen verursachten Emissionen an Treibhausgasen zugerechnet. Für fast jedes moderne Bauwerk wird heutzutage Beton genutzt, für den Zement ein zentraler Bestandteil ist. Holcim wiederum ist einer der weltweit führenden Baustoffkonzerne. „Jeder Mensch in Deutschland ,verbraucht‘ am Tag umgerechnet ein Kilogramm Zement. Wir müssen die Produktion von Zement dekarbonisieren, weil er als Baustoff nicht zu ersetzen ist“, sagt Florian Kleinwächter. „Etwa zwei Drittel des Kohlendioxids bei der Herstellung von Zement stammen aus dem Rohstoff Kreide oder Kalk. Dieser Anteil ist prozessbedingt unvermeidbar. Ein Drittel entsteht durch den Verbrennungsprozess im Ofen: Für klimaneutralen Zement müssen diese Emissionen aufgefangen und abgeschieden werden, um sie dann einzulagern oder wieder in den Stoffkreislauf zu bringen.“ Nachgerüstet mit CCS, soll Lägerdorf, das größte deutsche Zementwerk von Holcim, bis 2030 als „eines der ersten klimaneutralen Zementwerke der Welt“, in Betrieb gehen. Die ursprüngliche Planung hat sich um zwei Jahre verzögert, weil die gescheiterte Ampelkoalition das nötige Gesetz nicht mehr rechtzeitig auf den Weg brachte.
Holcim will mit der kompletten Abscheidung von Kohlendioxid in Lägerdorf den Ausstoß von jährlich einer Million Tonnen CO₂ in die Atmosphäre vermeiden. Für das Projekt investiere der Konzern „einen mittleren bis hohen dreistelligen Millionenbetrag“, sagt Kleinwächter, die EU fördert das Vorhaben mit 110 Millionen Euro aus dem „Innovation Fund“. Geplant ist eine rund 30 Kilometer lange Pipeline von Lägerdorf an den Elbhafen Brunsbüttel. Dort soll das verflüssigte Kohlendioxid künftig entweder von der in Brunsbüttel ansässigen chemischen Industrie verarbeitet werden – oder aber es wird in Tankern weitergeleitet in Richtung Nordsee, zu unterirdischen Lagerstätten für CO₂ in ausgeförderten Öl- oder Gaslagerstätten in den dänischen oder norwegischen Seegebieten.
Diese Art der Entsorgung und Einlagerung von CO₂ praktizieren europäische Unternehmen bereits in mehreren kommerziellen Projekten – im dänischen „Greensand“ vor Esbjerg oder auch im norwegischen Projekt „Northern Lights“. In Europas größtem Hafen Rotterdam wiederum wurde eine Pipeline zur Entsorgung von Kohlendioxid gebaut und zu einer ausgeförderten Gaslagerstätte in der Nordsee vor der niederländischen Küste hin verlängert. Das CCS-Projekt mit dem Namen „Porthos“ soll 2026 in Betrieb gehen.
Schon zu Beginn des Jahrtausends gab es in Norddeutschland erste Diskussionen und Erkundungsprojekte für mögliche CO₂-Lagerstätten. Sofort bildeten sich Bürgerinitiativen dagegen. Die Gegner der Technologie geißelten CCS als wirtschaftlich sinnlose und ökologisch gefährliche „End of pipe“-Technologie – anstatt Emissionen konsequent zu vermeiden, würden sie mit hohem Energieeinsatz abgefangen und in ökologisch sensiblen Meeresgebieten verpresst. Umweltorganisationen wie Greenpeace mahnten zudem vor dem Risiko, dass das CO₂ unkontrolliert wieder aus unterirdischen Lagerstätten austreten könne – ohne allerdings Belege für bisherige Unfälle dieser Art vorzulegen. Auch könnten die Anstrengungen von Wirtschaft und öffentlicher Hand zu mehr Klimaschutz nachlassen, wenn man große Verursacher von Treibhausgasen zur Entsorgung quasi einfach an riesige Auspuffanlagen hänge, so die Kritiker. Tatsächlich sieht die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf vor, den Einsatz von CCS und CCU auch für Gaskraftwerke zu ermöglichen, die als Ergänzung zu den erneuerbaren Energien gedacht sind. Unter anderem darüber wird nun im Bundestag gestritten.
Für die Wirtschaft steht fest, dass CCS auch in Deutschland eingesetzt werden muss. „CCS ist entscheidend für die wettbewerbsfähige Transformation der Industrie zur Klimaneutralität“, sagt Philipp Murmann, Präsident des Wirtschafts-Dachverbandes UVNord: „In Bereichen ohne wirtschaftliche CO₂-Vermeidungsalternativen wird sie dringend benötigt. Die Industrie braucht Klarheit über die Nutzung der Technologie, um Investitionen zu ermöglichen und abzusichern.“ Eine baldige Auswahl geeigneter Standorte für die Einlagerung von Kohlendioxid „sollte bundesweit und international möglich sein“.
Dänemark und Norwegen sind Deutschland bei der Nutzung von CCS um Jahre voraus, auch bei den Erkenntnissen über mögliche Lagerstätten. „Die Erschließung von CO₂-Speicherstätten ist zeitaufwendig und wird jeweils mehrere Jahre erfordern“, schreibt die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover auf Anfrage. „Ebenso wird der Aufbau einer CO₂-Abscheide- und Transportinfrastruktur mehrere Jahre dauern. Voraussetzung für den Aufbau einer CO₂-Infrastruktur ist die Schaffung eines geeigneten Rechtsrahmens, der mit der Anpassung des Kohlendioxid-Speicherungsgesetzes zeitnah erfolgen soll.“
Die BGR hat bereits Voruntersuchungen unternommen, um zu sehen, wo in Deutschland an Land und auf See Kohlendioxid eingelagert werden könnte. „Im Rahmen des Projektes ,Speicher-Kataster Deutschland‘ und anderer Studien hat die BGR zusammen mit den geologischen Diensten der Länder untersuchungswürdige Gebiete für die geologische Speicherung von CO₂ mit überregional relevanten Speicher- und Barrieregesteinen im bundesweiten Übersichtsmaßstab bewertet und kartiert“, schreibt die BGR. „Demnach sind in Deutschland insbesondere Speichergesteinseinheiten in großen, zusammenhängenden Gebieten Norddeutschlands und der deutschen Nordsee untersuchungswürdig. In Betracht kommen für die geologische Speicherung von CO₂ in Norddeutschland im Wesentlichen tiefe – Salzwasser führende – Gesteinsschichten (salinare Aquifere) und (zukünftig) erschöpfte Erdgaslagerstätten. Größere Erdgaslagerstätten sind hierfür räumlich auf das nordwestdeutsche Festland – insbesondere in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt – beschränkt.“
Mehrere Milliarden Tonnen CO₂ könnten Lagerstätten an Land und auf See in Deutschland wohl aufnehmen, doch fehlen dazu noch Detailstudien. Zum Vergleich: Der gesamte deutsche Ausstoß an Treibhausgasen lag 2024 bei rund 649 Millionen Tonnen, berechnet in CO₂-Äquivalenten. Für die Abtrennung und Einlagerungen für Kohlendioxid aus speziellen Bereichen wie der Zementindustrie oder der Müllverbrennung dürften die heute bekannten Speicherkapazitäten in Deutschland und Europa für mindestens einige Jahrzehnte ausreichen.
Auf deutsche Lagerstätten allerdings wird der Holcim-Konzern für sein Vorhaben in Lägerdorf wohl nicht warten. Die Nachrüstung des Zementwerks dürfte eines der größten und am weitesten fortgeschrittenen CCS-Projekte in Deutschland sein. „Die Voraussetzungen und Bedingungen in Schleswig-Holstein für die Dekarbonisierung unseres Zementwerks Lägerdorf sind ideal“, sagt Peter Ansorge-Sautner, Projektdirektor Carbon2Business bei Holcim Deutschland. Die Infrastruktur, die Verfügbarkeit von Ökostrom und auch des Rohstoffes Kalk und Kreide vor Ort, all das sei vorhanden – auch mit Blick auf die Abtrennung von Kohlendioxid: „Wir sind davon überzeugt, dass Kohlenstoff künftig ein wertvoller Rohstoff sein wird und damit auch gefragter Teil der industriellen Wertschöpfungskette.“
Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Er berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten auch über Projekte von Industrie und Energiewirtschaft für den Klimaschutz.
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