Das von der Bahn selbst verbreitete Narrativ, dass allein das kaputtgesparte Netz für die Misere des Staatskonzerns verantwortlich sei, hält Verkehrswissenschaftler und Bahn-Experte Christian Böttger für "Quatsch". Mit den richtigen Maßnahmen könnten Verkehrsminister Patrick Schnieder und die designierte Bahnchefin Evelyn Palla auch kurzfristig deutliche Verbesserungen bei der Bahn erzielen. In der neuen Strategie des Ministers klaffe zwar noch "ein großes Loch", doch sie enthalte auch viele gute Ansätze.
ntv: Sie haben die Bahn einmal als "dysfunktionales System" bezeichnet. Das können wahrscheinlich weder der Verkehrsminister noch eine neue Bahnchefin mit einem Schlag ändern. Aber geht die neue Bahnstrategie, die nun vorgestellt wurde, in die richtige Richtung?
Christian Böttger: Es gibt einige zentrale Punkte, um die Bahn auf Kurs zu bringen. Einige davon wurden angesprochen, andere leider nicht. Genannt hat der Verkehrsminister die Themen Entbürokratisieren und Dezentralisieren, also die Entscheidungen wieder den Leuten zu übertragen, die die Verantwortung vor Ort tragen. Das ist bei der Bahn ganz entscheidend. In den vergangenen Jahren hat es im Konzern einen sehr unguten Trend zur Zentralisierung und Bürokratisierung gegeben. So ist eine große, teure Verwaltungsstruktur Struktur entstanden, die viel Geld kostet und die Bahn schlechter macht. Angesprochen wurden auch Restrukturierungen im IT -Bereich und eine Öffnung der Informations-App "Navigator" für Wettbewerber. Das sind zwar kleinere Themen. Aber es ist positiv, dass sie vorkamen.
Welche wichtigen Themen haben Sie vermisst?
Was in der Strategie nicht auftaucht, ist die Netzüberlastung durch eine zu hohe Zahl an Zügen. Das ist politisch umstritten, aber intern bei der Bahn sagen viele Leute: Es geht nicht anders, der Fahrplan muss verschlankt und Züge rausgenommen werden. Allerdings hat in der Pressekonferenz Frau Palla das Thema angesprochen. Nicht zur Sprache kam, dass das Marktmodell, das der Regio-Sparte zugrunde liegt, nicht mehr richtig funktioniert. Das 2026 anstehende Fiasko bei den Trassenpreisen infolge der missglückten Finanzierung für die Infrastruktur wurde nur am Rand erwähnt. Ein riesiges Loch bei der Präsentation tat sich auf beim Thema politische Steuerung der Bahn. Auch künftig soll der Bundestag - entgegen dem Rechnungshof-Votum - Vertreter in den Aufsichtsrat entsenden, das erschwert die Steuerung durch das Ministerium.
Die Bahn ist stark politisiert, und ein riesiges, komplexes Gebilde dazu. Kann die neue Chefin bei den Themen, die der Minister angesprochen hat, Entbürokratisierung und Dezentralisierung, überhaupt etwas ausrichten?
Kann einer allein da etwas ändern? Nein, das geht nur im Team. Wir müssen abwarten, wie der Vorstand am Ende aussehen wird. Der Posten des Finanzvorstands ist ja zum Beispiel noch offen. Aber es gibt auf jeden Fall Stellschrauben, an denen das Management etwas bewirken kann. Dazu gehört, die fehlgeleitete Zentralisierung der vergangenen Jahre rückgängig zu machen. Eine weitere, ganz wichtige Stellschraube ist das Thema Überregulierung. Es gibt jedes Jahr - das ist keine Übertreibung - Hunderte neue Regeln, die dazu führen, dass irgendetwas, was man vorher gemacht hat, jetzt nicht mehr gemacht werden darf oder dass es teurer wird. So wird in Deutschland beispielsweise seit einiger Zeit bei Bauarbeiten die Strecke immer in beiden Fahrtrichtungen gesperrt. Das verursacht natürlich einen riesigen Mehraufwand und Mehrkosten. In unseren Nachbarländern können bei Baustellen, die nur ein Gleis betreffen, Züge auf dem Gleis in Gegenrichtung weiterfahren.
Sie haben noch gar nicht über Geld gesprochen. In Politik, Medien und bei der Bahn selbst steht meist das Narrativ im Vordergrund, dass die kaputtgesparte Infrastruktur die Wurzel allen Übels ist - und mehr Geld damit der Schlüssel für Verbesserungen. Das sehen sie anders?
In der Branche ist Konsens, dass diese Geschichte zumindest nicht ganz stimmt. Es sind keineswegs alle Probleme auf die Infrastruktur zurückzuführen. Die Berliner S-Bahn hat eine eigene Auswertung, die einen guten Eindruck von den Verhältnissen gibt. Demzufolge sind 50 Prozent der Störungen auf die Infrastruktur zurückzuführen, 30 Prozent auf die Fahrzeuge und 20 Prozent auf Eingriffe von außen. Und auch die Probleme mit der Infrastruktur selbst sind keineswegs nur auf den schlechten Netzzustand zurückzuführen. Ein Beispiel: Wenn eine Baustelle fertig ist, muss sie von einem Abnahmeprüfer der DB freigegeben werden. Die DB hat aber vergessen, solche Abnahmeprüfer auszubilden. Nach und nach gingen die vorhandenen Prüfer in den Ruhestand, und jetzt gibt es Baustellen, die teils Hunderte Millionen Euro gekostet haben, die mangels Abnahmeprüfern aber nicht freigegeben sind. Das ist nur ein Beispiel für einen klassischen Managementfehler, es fehlen auch Stellwerker und Wartungspersonal für die Infrastruktur. Dieses Narrativ, dass alles ausschließlich an der plötzlich verfallenen Infrastruktur liegt, ist Quatsch.
Das heißt im Umkehrschluss: Der Bahn einfach mehr Milliarden geben, löst die Probleme nicht?
Das muss differenziert gesehen werden. Die Bahn braucht laufende Zuschüsse, zum Beispiel zum Ausgleich der stark steigenden Trassenpreise. Diese steigen als Ergebnis einer politischen Fehlentscheidung, man hat der Bahn kürzlich anstelle von Baukostenzuschüssen das Eigenkapital erhöht. Aufgrund einer gesetzlichen Logik führt das jetzt zu stark steigenden Trassenpreisen. Für Investitionen braucht die Bahn erhebliche Mittel. Allerdings sind die dafür benötigten Ressourcen für Planung und Bau knapp. Zusätzliches Geld hilft nicht, wenn die Ressourcen nicht aufgebaut werden können. Wenn wir mit immer mehr Geld der gleichbleibenden Zahl von Bauarbeitern, Planern und Ingenieuren hinterherjagen, steigen nur die Preise. Wir haben ja schon eine hohe Baukosteninflation.
Stimmt Sie das, was Sie gehört haben, eher optimistisch oder pessimistisch, dass es bei der Bahn nun zumindest in die richtige Richtung geht?
Bei der Bahn haben sich viele Probleme aufgetürmt, es gibt viele Widerstände gegen Reformen. Deshalb gibt es durchaus Grund, pessimistisch zu sein. Aber innerlich bin ich Optimist: Die neue Strategie ist nicht so ein Fiasko, wie es manche in der Branche erwartet haben. Sie enthält viele gute Ansätze, auch wenn viele Punkte noch ausgearbeitet werden müssen. Wenn die neue Führung und das Ministerium die Punkte konsequent angehen, glaube ich, dass man die Bahn auch schon kurzfristig besser machen kann.
Mit Christian Böttger sprach Max Borowski
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