Die Zahl der Asylsuchenden ist in Europa deutlich zurückgegangen – insgesamt um fast ein Viertel. Die Gründe dafür kennt die Migrationsexpertin Victoria Rietig.

SRF News: Ist die restriktivere Politik in Europa wie Grenzkontrollen der Hauptfaktor für die Abnahme der Asylgesuche?

Victoria Rietig: Nein, aber die restriktivere Asylpolitik ist ein wichtiger Faktor. Inzwischen gibt es überall Zäune, die den Weg für die Migrantinnen und Migranten erschweren: in Griechenland, auf dem Balkan oder auch in Finnland, wo es an der Grenze zu Russland nicht mehr möglich ist, einen Asylantrag zu stellen.

Der wichtigste Grund für den Rückgang ist die veränderte Situation in zentralen Herkunftsländern.

Ein weiterer Grund sind die abschreckenden Massnahmen, bevor die Leute überhaupt die EU erreichen. So greifen etwa Tunesien und andere nordafrikanische Staaten immer härter durch und hindern Migrantenboote am Ablegen. Der wichtigste Grund aber ist die veränderte Situation in zentralen Herkunftsländern: So wurde in Syrien Assad gestürzt, was zu einem Rückgang der Asylanträge von Syrerinnen und Syrern in Deutschland um 60 Prozent bewirkt hat.

Legende: Die Zahl der Asylgesuche geht auch in der Schweiz zurück, wenn auch bislang weniger rasch als im übrigen Europa. Und so bleiben manche Betten in Asylunterkünften leer. Reuters/Arnd Wiegmann

Dann spielt die Asylpolitik in Europa gar keine so grosse Rolle?

Nein – und das weiss auch die Europäische Asylagentur. Sie schreibt, dass der Rückgang «wahrscheinlich» nicht auf die veränderte Asylpolitik in der EU zurückzuführen ist. Trotzdem funktioniert auch die Abschreckung zum Teil. Sie trägt dazu bei, dass wir zumindest kurzfristig Veränderungen haben und kurzfristig weniger Leute kommen. Aber die zahlenmässig grösseren und vor allem langfristigeren Veränderungen haben mit der Situation in den Herkunftsländern zu tun.

Weil Trump Ernst macht mit den Rückschaffungen, versuchen es viele Venezolaner jetzt statt in den USA in Europa.

Im ersten Halbjahr kamen die meisten Asylsuchenden in Europa aus Venezuela, oft mit dem Ziel Spanien. Warum ist das so?

Das hat verschiedene Gründe. Fakt aber ist, dass die Situation in Venezuela schon seit langem verheerend ist: Seit 2015 sind mehr als sieben Millionen Venezolaner geflohen, davon sechs Millionen innerhalb Lateinamerikas, aber auch Hunderttausende in die USA. Und weil Trump Ernst macht mit den Rückschaffungen, versuchen es viele Venezolaner jetzt statt in den USA in Europa, und hier nach Spanien wegen der Sprache.

Trotz der Abnahme der Asylgesuche sprechen viele von einer Migrationskrise. Wie erklären Sie sich das?

Zum einen machen wir in Europa Migrationspolitik auf der Grundlage gefühlter Wahrheiten. Eine Krisenstimmung und eine Krisenberichterstattung gibt es eben nicht nur, wenn wir eine tatsächliche numerische Krise haben, sondern auch, wenn das Herbeireden einer solchen Krise politisch opportun ist. Das ist etwa im Wahlkampf der Fall. Der zweite Grund ist, dass, selbst wenn eine Krise nachlässt – wie jetzt bei Syrien –, eine neue Krise zu neuen Vertreibungen führt – wie in der Ukraine. Oder Krisen, die lange woanders gespürt worden sind, kommen jetzt auch in Europa an – wie das Beispiel Venezuela zeigt.

Es kann sich also alles von heute auf morgen verändern. Wie ist da eine nachhaltige Asylpolitik möglich?

Migrationsbewegungen können sich tatsächlich sehr schnell verändern – innerhalb von ein paar Wochen oder Monaten. Krisen können sehr schnell entstehen – die Menschen packen ihre Koffer sehr schnell, wenn die Situation es erfordert. Deswegen ist eine Politik nur dann nachhaltig, wenn sie dies auch anerkennt und man die Migrationspolitik ständig anpasst.

Das Gespräch führte Brigitte Kramer.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke