Es ist ein trüber und kühler Tag in Leuna, am traditionellen Standort der Chemieindustrie in Sachsen-Anhalt. Die äußeren Umstände passen zur wirtschaftlichen Lage. Im Nieselregen vor dem Portal des alten Hauptgebäudes steht Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) neben Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) unter Regenschirmen. Sie sagt das Naheliegende: „Wir lassen Sachsen-Anhalt nicht im Regen stehen.“

Reiche ist gekommen, um ein Vorzeigeprojekt der Chemieindustrie zu besuchen. Das finnische Unternehmen UPM baut auf dem Gelände eine Raffinerie, die aus Holz die Grundstoffe für viele Kunststoffe generieren soll. Dafür hatte das Land vor fünf Jahren 20 Millionen Euro Fördergeld gegeben, mehr als eine Milliarde kostet die Anlage. Kein Vergleich zur gescheiterten Ansiedelung einer Chipfabrik von Intel in Magdeburg, die zehn Milliarden Euro Subventionen kosten sollte.

Das Bundesland ist von negativen Nachrichten aus der Wirtschaft gebeutelt. Da ist die endgültige Absage des Chipriesen Intel an die Fabrik in Sachsen-Anhalt, außerdem der geplante teilweise Rückzug des US-Chemieriesen Dow Chemical. Insgesamt ist die Wirtschaft in Sachsen-Anhalt im vergangenen Jahr um 0,9 Prozent geschrumpft. Die Stimmung ist auch mit Blick auf die Landtagswahl im kommenden Jahr angespannt. Mehr als 28 Prozent der Bevölkerung in Sachsen-Anhalt ist über 60 Jahre alt. Das Land liegt damit knapp vor Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern an der Spitze beim Anteil älterer Einwohner.

In der vergangenen Woche hatte sich Reiche noch skeptisch geäußert gegenüber hohen Subventionen wie denen für Intel. Nun betont sie, dass die Chipindustrie von strategischer Bedeutung sei für das Land. Die schlechten Nachrichten aus der Wirtschaft zeigten, dass die Industrie stark unter Druck stehe. „Der Druck kommt nicht nur durch die Anforderungen an Transformation, er kommt durch hohe Energiepreise, er kommt durch hohe Lohnnebenkosten“, sagt sie. Für Veränderung brauche es Zeit und Kapital. Die Bundesregierung arbeite daran, die Energiekosten in den Griff zu bekommen. Sie zählt Stromsteuer, Industriestrompreis und Gasumlage auf. „Weitere Entlastungen müssen folgen.“

Ob diese Entlastungen schnell genug kommen? Die Aussichten für die Chemieindustrie in Sachsen-Anhalt sind derzeit alles andere als gut. Zuletzt hatte Dow Chemical angekündigt, in der Region 550 Arbeitsplätze abzubauen und mehrere Anlagen in Schkopau und in Böhlen im benachbarten Sachsen bis 2027 stillzulegen.

Dabei handelt es sich um Anlagen der Grundchemie, unter anderem einen sogenannten Steamcracker, der Öl in Ausgangsstoffe für viele andere Prozesse aufspaltet. Die Sorge ist nun, dass diese Schließungen einen weiteren Abbau von Anlagen in der Chemie-Wertschöpfungskette nach sich ziehen werden. Begründet wird der Rückzug von Dow Chemical mit den hohen Energiekosten in Deutschland und den schlechten Standortbedingungen.

Der Besuch beim Vorzeigeprojekt aus dem Bereich der „Bioökonomie“ kann die Probleme des Standorts kaum überdecken. Auch die Politik trägt daran eine Mitschuld. Am Rande eines Unternehmensbesuchs bei Nürnberg sagte Reiche am Freitag, man hätte beim Intel-Projekt mehr Sorgfalt walten lassen müssen. Das Fördern einzelner Projekte mit Milliardensummen müsse sorgfältig geprüft werden. „Richtig ist aber auch, dass wir in Bezug auf Chip-Produktion und dem Entwickeln von Hochleistungstechnologie weiterkommen müssen“, sagte sie. „Der Standort Sachsen-Anhalt ist insofern tatsächlich getroffen, weil große Hoffnungen auf dieses Projekt gelegt wurden.“

Forderung nach mehr Subventionen

Die Grünen in Sachsen-Anhalt wollen sich von der Logik der staatlich subventionierten Großprojekte nicht so schnell verabschieden. „Ob die neue Bundesregierung weiterhin so zur Hightech-Ansiedlung in Magdeburg steht wie die alte, ist offen. Gerade deshalb ist es wichtig, dass der Kurs des vorherigen Wirtschaftsministers Habeck dazu konsequent fortgesetzt wird“, sagte der wirtschaftspolitische Sprecher der Landtagsfraktion, Olaf Meister. Die Förderung zukunftsorientierter Großinvestitionen im Technologiebereich müsse Bestand haben. „Sinnvoll wäre ein zügiger Erwerb durch das Land, um die Entwicklung aktiv zu steuern und voll handlungsfähig zu sein. Die Grundstücke dürfen auch nicht wahllos vermarktet werden.“

Auch die Gewerkschaft IG Metall fordert „eine gezielte Förderung technologiegetriebener Branchen – auch über einzelne Leuchtturmprojekte hinaus“. Sachsen-Anhalt habe in den vergangenen Jahren wichtige industriepolitische Grundlagen geschaffen. „Entscheidend ist jetzt, dass der politische Wille bestehen bleibt, industrielle Wertschöpfung im Land zu halten und neue Investitionen aktiv zu begleiten“, kommentierte Thorsten Gröger, Bezirksleiter der IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt die Intel-Entscheidung am Freitag. „Wenn Deutschland Industrieland bleiben will, braucht es mehr als wohlklingende Strategiepapiere. Es braucht den Mut, gezielt in Schlüsseltechnologien zu investieren – und die politische Klarheit, dass Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und gute Arbeit zusammengehören“, sagte er mit Blick auf die Bundesregierung.

Unterstützung für diesen Kurs kommt von den Ökonomen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Nach Einschätzung von Martin Gornig, Forschungsdirektor für Industriepolitik am DIW, wäre die Intel-Ansiedelung in Magdeburg ein zentraler Baustein für den Aufbau eigener Halbleiterkapazitäten gewesen. „Angesichts geopolitischer Spannungen und globaler Abhängigkeiten – etwa bei Mikrochips – wird die Versorgungssicherheit bei einer solchen, für viele Produkte entscheidenden, Komponente immer dringlicher“, mahnt er. Die gewaltigen Subventionen in Höhe von fast zehn Milliarden Euro wären aus seiner Sicht „quasi eine Versicherungsprämie gegen zukünftige Krisen“ gewesen. Deutschland und die EU müssten nun umso entschlossener den Aufbau eigener Kompetenzen zur Chip-Produktion vorantreiben, fordert er.

Ob es aber Aufgabe des Staats ist, diesen Aufbau zu finanzieren? Die Meinungen gehen auch unter Wirtschaftswissenschaftlern auseinander. Für Irene Bertschek, Leiterin des Forschungsbereichs „Digitale Ökonomie“ am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim kam die Absage von Intel „gerade noch rechtzeitig“. Sie argumentiert, dass der Konzern ohnehin auf die falschen Chips gesetzt hat und derzeit in vielen Bereichen – gerade bei Chips für Künstliche Intelligenz – nicht wettbewerbsfähig ist. „Wenn solche Ansiedelungen ausländischer Unternehmen durch Steuergelder unterstützt werden, sollten diese auf jeden Fall langfristig im Sinne der regionalen Entwicklung angelegt werden, zum Beispiel in Forschungs- und Bildungsinfrastrukturen, die auch von anderen Unternehmen und Einrichtungen genutzt werden können und nicht versenkt sind, wenn das subventionierte Unternehmen pleitegeht oder weiterzieht“, sagte Bertschek.

In Leuna hat UPM seine Anlage ohne große staatliche Hilfe aufgebaut. Ende des Jahres sollen die ersten Produkte an Industriekunden ausgeliefert werden. Ein wesentlicher Faktor für die Ansiedelung war die Chemietradition des Standorts. Das Gelände des früheren Chemiekombinats, gegründet 1916 von der BASF, verwaltet heute die Gesellschaft Infraleuna. Seit dem Untergang der DDR haben sich rund 100 Unternehmen angesiedelt, darunter der Gase-Konzern Linde und der Raffineriereise Total. Mitarbeiter für ein Chemiewerk zu finden, ist hier einfach.

Für Haseloff hat die Chemieindustrie in Sachsen-Anhalt noch eine größere Bedeutung. Die Produkte aus dem Chemiepark seien notwendig „für die Erreichung der Ziele der Energiewende, der Klimaziele, aber auch der strategischen, militärischen und verteidigungspolitischen Ziele“, sagte er. „Wenn diese Standorte nicht im Netz gehalten werden, dann werden wir abhängig von anderen Standorten auf anderen Kontinenten, die darüber entscheiden, ob unser wirtschafts- und politisches System als freiheitlich-demokratische Grundordnung überleben wird.“

Daniel Zwick ist Wirtschaftsredakteur in Berlin und berichtet für WELT über Wirtschafts- und Energiepolitik, Digitalisierung und Staatsmodernisierung.

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